Zum bewegten Leben der Anna Denzler
Der Umstand, dass Jérôme Bel seine Produktion „Isadora Duncan“ – zu sehen am 28. Juli 2021 bei ImPulsTanz im MuTh – gerne auch mit Fotos von Anna Duncan promoted, verleitet, einen genaueren Blick auf diese Ziehtochter Isadoras zu werfen. Umso mehr, als Anna Denzler, so der ursprüngliche Name der gebürtigen Schweizerin, in Klagenfurt aufgewachsen ist. Dass Anna Duncans Vermächtnis durchaus auch in Bels Arbeit wirksam wurde, ist dadurch gegeben, dass Elisabeth Schwartz, die Protagonistin in „Isadora Duncan“, Unterricht bei der Anna-Duncan-Schülerin Julia Levien hatte.
Die Gegebenheiten – hier die Fotografie einer Person „Anna Duncan“, dort der titelgebende Name „Isadora Duncan“ – werfen ganze Bündel von Fragenkomplexen auf, die letztlich, wie die Erfahrung zeigt, nicht zu beantworten sind. Dieser Befund ist der Erkenntnis geschuldet, dass die Wiederbelebung des Tanzes eines bestimmten kulturellen Raums, einer bestimmten Zeit, vor allem aber einer bestimmten Person, nur durch das Zusammentreffen glücklichster (Produktions-)Umstände möglich ist. Der vehement vertretene Standpunkt vieler Moderner TänzerInnen dazu lautete: „Mein Tanz ist mein Besitz, denn er ist meinem Körper, meinem ganzen Wesen erwachsen!“ Von einer „Weitergebbarkeit“ ihrer Kunst könne daher nicht die Rede sein. Und doch: Auch die Modernen – allen voran Isadora Duncan – wollten, dass ihre Kunst weitergetragen werden sollte. Und im Falle der Duncan war dieses Weitergeben, beziehungsweise das „Weiterleben“, sogar von ihr selbst angeregt worden.
Wie sonst wäre es zu verstehen, dass die Duncan schon sehr früh die Schülerinnen ihrer Ausbildungsstätte – darunter die spätere Anna Duncan – in ihre Tanzabende miteinbezog? Zudem gehörte es an sich zum Ausbildungsprogramm jeder Schule des Modernen Tanzes, sich eigenschöpferisch zu betätigen. Dass bald Einzelne hervortraten, war absehbar gewesen. Dass diese dann auch über den frühen Tod der Duncan hinaus tätig sein würden, war nur logische Konsequenz. Und dass es Vermittlerinnen geben würde, die die „Idee Duncan“ letztlich bis in die Gegenwart tragen sollten, war zu erwarten. Dass sich diese Entwicklung weltweit vollzog – das heißt nicht nur in Deutschland, Frankreich, Russland und den USA, wo die persönliche Präsenz der Duncan besonders intensiv war –, ist Konsequenz der eminenten Strahlkraft der Duncan. Dass für das Weitertragen der Einsatz der – wie es zur Zeit der Duncan hieß – „Ganzheit des menschlichen Seins“ unabdingbar ist, versteht sich von selbst. Wie sehr Elisabeth Schwartz in Bels Stück für einen solchen Einsatz bereit ist, können die Zuschauer nachvollziehen. Sie nämlich vermag es, das Wesen und die Essenz des Tanzes der Duncan zu vermitteln, die, wie keine andere Persönlichkeit, der Entwicklung des Tanzes eine neue Richtung wies. Die der dritten Generation von Duncan-Schülerinnen zugehörige Schwartz – ihre Duncan-Genealogie verläuft über Julia Levien und Anna Duncan zu Isadora – tanzt nun „ihre“ Duncan-Sicht, ihre Auseinandersetzung mit einer Person und Zeiträumen von gestern.
Die 1877 in San Francisco geborene Isadora Duncan hatte, da die USA (noch) keinen Auftrittsort für umstürzlerische Tänzerinnen zur Verfügung stellte, in Europa ihre Karriere gemacht. Ihre Auftritte, die künstlerischen ebenso wie die privaten, wirkten in jedem Land, in dem sie erschien, nachhaltig. Überall hinterließen sie selbst, ihre MitarbeiterInnen sowie ihre Schülerinnen Spuren. Dass diese in Wien, sogar in ganz Österreich, in derart hohem Maß vorhanden sind, überrascht sogar jene, die mit Tanzgeschichte einigermaßen vertraut sind. Dass eine Spur nach Klagenfurt führt, ist bekannt, denn hier wuchs die Schweizerin Anna Denzler, die spätere Anna Duncan, mit ihrer Familie auf.
Auf den Spuren Isadoras …
Angesichts der überbordenden Fülle all der Duncan-Spuren und -Bezüge in Österreich muss diesbezüglich eine ausführliche Besprechung auf einen späteren Zeitpunkt verlegt werden. Im Folgenden wird also weder auf den aus Wien stammenden Tanzlehrer Jay Mastbaum eingegangen, der die Duncan-Geschwister Elizabeth, Augustin, Raymond und Isadora in den späten 1880er-Jahren in Oakland (Kalifornien) unterrichtete, noch auf die Prophezeiung einer Bekannten der Familie, die ihre Jugend in Wien verbracht hatte: „Isadora wird eine zweite Elßler werden!“ Auch von dem 1897 stattgefundenen London-Aufenthalt Isadoras soll nicht die Rede sein, bei dem sie bei Katti Lanner, der Wiener Ballettmeisterin des Empire Theatre, studierte.
Die Ereignisse rund um Isadoras „Durchbruch“ in Wien 1902, wo der im Tross der Loïe Fuller Gekommenen das Heraustreten aus dem kleinen Kreis geschlossener Gesellschaften zu den großen Erfolgen in der Öffentlichkeit gelang, müssen, da sie schon öfters beschrieben wurden, nicht näher ausgeführt werden. Etwa die Schilderung der von Fürstin Pauline Metternich veranlassten Einführung Isadoras in die Wiener Gesellschaft im Hotel Bristol im Februar 1902, des in der Folge auf Betreiben Gustav Klimts erfolgten Auftritts in der Secession und – nach daraus resultierenden Vertragsabschlüssen für Tourneen in Ungarn und Böhmen – des Auftritts im Künstlerhaus im April 1902. Bekannt ist auch, dass Isadora im Kaiserhaus durch Erzherzog Ludwig Viktor Bewunderung gezollt wurde und der Kaiser selbst einer ihrer Vorstellungen, im August 1902 in Bad Ischl, beiwohnte. Weniger bekannt als die Förderung durch Hermann Bahr ist die Tatsache, dass der Wiener Schriftsteller Karl Federn Isadora Duncans 1903 erschienene Abhandlung „Der Tanz der Zukunft“ ausgearbeitet hat. Nur durch die Lebenserinnerungen ihres Geliebten Oszkár Beregi ist überliefert, dass Isadora durch einen Sturz über eine Stiege im Wiener Grand Hotel den Verlust eines „ungarischen“ Kindes erlitten hat. Isadora selbst berichtet in ihren „Memoiren“ über einen jungen Schauspieler, den sie davon abbringen konnte, aus Liebeskummer Selbstmord zu begehen. Der Errettete machte eine glanzvolle Karriere in Wien, deren Höhepunkt die Bestellung zum Burgtheaterdirektor war. Das Cape, das ihm Isadora zum Geschenk machte, wird heute vom Theatermuseum Wien gehütet. Der Träger war Raoul Aslan.
Oftmals wurde bereits Gustav Mahlers negative Haltung dem Tanz gegenüber kritisiert. Zu seinen diesbezüglichen „Missetaten“ als Direktor der Hofoper gehören auch die zweimaligen negativen Bescheide zu Anfragen von Agenten der Duncan nach Gastspielmöglichkeiten in der Hofoper (in Budapest hingegen war ihr 1902 ein Auftritt im königlichen Opernhaus ermöglicht worden). Hinlänglich bekannt sind auch die Wiener Auftritte der Duncan im Carl-Theater, sie fanden im März/April 1903 und – begleitet durch einen griechischen Knabenchor – im Jänner 1904 statt. „Festwochen in der Kunst“ nennt es Bahr, wenn Duncan und Eleonora Duse im Frühjahr 1903 alternierend Gastspiele im Carl-Theater geben. (In der Folge entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen der Tänzerin und der Schauspielerin.)
Dagegen fand bislang wenig Beachtung, dass 1904 in Vertretung des erkrankten Bahr kein Geringerer als Hugo von Hofmannsthal als Duncans „Conférencier“ fungierte! In der vor geladenen Besuchern abgehaltenen Generalprobe zu Duncans „griechischem Programm“ (Fragmente aus Aischylos᾽ „Die Schutzflehenden“ und Euripides᾽ „Die Bakchen“) hielt der Dichter einen Vortrag über den Rhythmus in der antiken Kunst und Poesie. Völlig verschwiegen wurde in der Duncan-Literatur, dass später in die exquisiten Programmhefte der Tänzerin ein Text von Hofmannsthal eingeflossen ist. Auch von Arthur Schnitzler finden sich Bemerkungen zu Duncans Wiener Auftritten, ebenso von Karl Kraus, von diesem – kaum verwunderlich – maliziöser Natur. Adolf Loos, der die Duncan im Carl-Theater erlebte, habe es nach den Worten seiner Frau Elsie Altmann als „echte Revolution“ empfunden, wie Duncan „an einem einzigen Abend alles vernichtete, was bisher ‚klassisches Ballett‘ geheißen hatte“. Gleichwohl soll die Primaballerina assoluta Matilda Kschessinskaja, die 1903 an der Hofoper gastierte, angesichts einer Vorstellung der Duncan im Carl-Theater voller Begeisterung auf ihren Sitz gesprungen sein. Auf den Punkt brachte es Elsa Huber-Wiesenthal in ihrem Nachwort der 1928 erschienenen deutschen Ausgabe von Duncans „Memoiren“: Sie war wie jemand, „der den Mut hat, so zu tanzen ,wie ihm der Schnabel gewachsen ist‘“.
Nicht übersehen werden sollen auch die zwei Tage nach Duncans Tod im September 1927 in der „Neuen Freien Presse“ veröffentlichten Nachrufe von prominenten Wiener Tänzerinnen. Maria Ley schilderte ihre Eindrücke von Duncans letztem Tanzabend im Juli 1927 in Paris. „Man spürte: hier war ein so starkes Leben und Erleben, dass sein Ende nicht auf gewöhnliche Weise vor sich gehen konnte ...“. Und Gertrud Bodenwieser postulierte in ihrer Betrachtung über Tanzstil und Methode der „Stammmutter, die von allen modernen Tänzerinnen anerkannt wurde“, sie habe die von François Delsarte vertretenen Gedanken aufgegriffen und diesen durch ihre Persönlichkeit erst zum Sieg verholfen.
Auch vom Wiener Musikpädagogen Max Merz soll nicht weiter die Rede sein. Er trat bekanntlich 1907 in Berlin als musikalischer Leiter in die 1904 von Isadora und Elizabeth Duncan gegründete Internatsschule ein. Von 1909 bis zu ihrem Tod 1948 ist Elizabeth Leiterin der Schule, Merz wird Co-Direktor. (In einer programmatischen Schrift hielt Merz einmal fest: „Was ist denn Musik eigentlich? – Tönende Bewegung! …“.) Bekannt sind auch die Tätigkeiten von Raymond Duncan. Wann aber seine aus Lettland stammende Lebenspartnerin Aia Bertrand in Tirol eine Duncan-Sommertanzkolonie betrieben hat, muss Gegenstand weiterer Forschung bleiben. Näher zu erkunden wären auch die Umstände, die die ungarische Repräsentantin des „Duncanismus“, Valéria Dienes, veranlassten, 1920 eine Orchestrik-Schule im Montessori-Kinderheim in Wien-Grinzing zu gründen. Dienes, eine Schülerin von Raymond Duncan in Paris, kehrte 1923 zurück nach Ungarn. Und eine eingehendere Beschäftigung mit der Duncan-Adeptin Ellen Tels wäre schon deswegen interessant, weil nach ihrer Flucht aus der Sowjetunion nicht nur in Wien, wo sie von 1921 bis 1927 eine Schule in der Zedlitzhalle unterhielt, große Wirkung von ihr ausging, sondern anschließend auch in Frankreich, wohin sie weitergezogen war.
Obwohl es immer wieder Erstaunen auslöst, wie oft die Tanzmoderne den riesigen Saal des Konzerthauses zu füllen vermochte, etwa 1921 bei Vorführungen der Elizabeth-Duncan-Schule, soll darauf im Weiteren ebenso wenig eingegangen werden wie auf Lily Dikovskaya, Tochter eines „Austrian tailor and a Russian dressmaker“, die ab 1921 Schülerin Isadoras in der Sowjetunion war und 2008 in England das Buch „In Isadora’s Steps. The story of Isadora Duncan’s school in Moscow, told by her favourite pupil“ veröffentlichte. Auch können über einen angeblichen Aufenthalt Isadora Duncans 1923 in Wien, bei dem sie eine Vorstellung des Sironi-Balletts in der Volksoper besucht haben soll, keine weiteren Mutmaßungen angestellt werden. (1902 war Irene Sironi, damals Primaballerina der Wiener Hofoper, unter den Besuchern von Duncans Vorstellung in der Secession gewesen.) Auch die verschiedensten Impulse für die Wiener Moderne Tanzszene können hier nicht weiter erörtert werden. Nachdem sich nämlich 1923 Kurse der Elizabeth-Duncan-Schule in Wien etabliert hatten (Gertrud Drück war Leiterin dieser Kurse; sie fanden in der Eschenbachgasse 9 und Sensengasse 3 statt) und es auch zur Gründung einer österreichischen Elizabeth-Duncan-Gesellschaft gekommen war, bot man, auf Vorschlag von Alfred Roller und Josef Hoffmann, einen Kurs an der Wiener Kunstgewerbeschule an. Dass die Wiener Tanzszene durch „Duncan-Verwandte“ bereichert wurde, war zu erwarten. Zum Beispiel gastierte Maria-Theresa Duncan, eine Ziehtochter Isadoras aus Dresden, 1927 mit einem Tanzabend im Wiener Konzerthaus; bereits 1924 hatte Manja Rudina, eine aus Russland nach Amerika geflüchtete Duncan-Schülerin, im Neuen Saal der Hofburg einen Tanzabend gegeben.
Einigermaßen überraschend ist jedoch, dass das Kompendium „The Technique of Isadora Duncan“, ein von Isadoras Hamburger Ziehtochter Irma Duncan verfasstes und 1937 in New York verlegtes Standardwerk der umfangreichen Duncan-Literatur, ein Produkt der renommierten Wiener Druckerei Karl Piller ist.
Daheim in Kleßheim
In gebotener Kürze sei erinnert an die Elizabeth-Duncan-Schule in Schloss Kleßheim, dem ehemaligen Wohnsitz von Erzherzog Ludwig Viktor. Nach Verhandlungen mit der Republik Österreich – zunächst war Schloss Schwarzau am Steinfeld als Standort der Schule in Aussicht genommen worden – wurde das Kleßheimer Winterschloss zum neuen Sitz der Schule. Es sollte jener Ort werden, in dem sich das Institut in seiner mehr als 60-jährigen Geschichte (1904–1965) am längsten aufhielt: Zehn Jahre, von 1925 bis 1935, war das ehemalige Habsburger-Schloss Heim der Ausbildungsstätte. Die Leitung haben Elizabeth Duncan und Merz inne, die von Elizabeth Duncan ausgebildete Drück kommt als Lehrkraft hinzu, Assistentinnen sind Anita Zahn (Baumann) und Dora Köritz (Lanz). Die Franz-Cizek-Schülerinnen Erika Giovanna Klien, Elisabeth Karlinsky und Ilse Pompe-Niederführ erteilen Kunstunterricht.
Mehr als 500 Schülerinnen aus achtzehn Ländern wurden in Kleßheim verzeichnet. Darunter Jarmila Jeřábková, die in der Folge in Prag Duncans Arbeit weiterführt, Yvonne Berge, die zu einer einflussreichen Pädagogin in Frankreich wird, Lucy Burkiczak, die bis zu ihrem Tod 2013 mit Hannelore Schicks Münchener Elizabeth-Duncan-Nachfolgeschule verbunden war. Auch James Joyces Tochter Lucia Joyce, die Tanzpädagoginnen Lisl Biborosch und Litz Pisk, der Schriftsteller Johannes Mario Simmel, der Literaturwissenschaftler Hans Zeller und Elisabeth Heller, die Mutter von André Heller, besuchten die Schule in Kleßheim. In Kleßheim erfährt man auch 1927 vom tragischen Tod Isadoras. Die Schule nimmt im Juni 1928 an der Semaine Mémoriale Isadora Duncan im Palais du Trocadéro in Paris teil. Der Kongress „Die Vereinheitlichung der körperlichen, geistigen und seelischen Erziehung“, den man 1929 in Kleßheim zur Feier des 25-jährigen Bestehens der Schule ausrichtet, muss ohne Isadora abgehalten werden.
Max Reinhardts großes Interesse an Bewegung im Allgemeinen und Tanz im Besonderen ist noch immer ein weiter zu erforschender Themenbereich; dass er 1930 für eine Inszenierung von William Shakespeares „Was ihr wollt“ im Heckentheater im Mirabellgarten mit Studierenden des Max-Reinhardt-Seminars auch die Elizabeth-Duncan-Schule heranzog, ist weniger bekannt. Lohnend wäre auch eine Recherche zur „Olimpiade della Grazia“ 1931 in Florenz. Neben der Elizabeth-Duncan-Schule nahmen die Schulen von Mary Wigman, Dorothee Günther, Gertrud Bodenwieser und der Raymond-Duncan-Adeptin Margaret Morris teil. Im darauffolgenden Jahr inszeniert Reinhardt Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ (Choreografie: Drück) im Schloss und Park Kleßheim. Wieder waren daran die Studierenden des Max-Reinhardt-Seminars und der Elizabeth-Duncan-Schule beteiligt. (Schon 1904 hatten Bahr und Reinhardt die Idee, im Salzburger Stadttheater festspielartige Vorstellungen mit der Duse, der Duncan und Kräften des Berliner Reinhardt-Ensembles zu veranstalten; ebenfalls nicht verwirklicht wurde zehn Jahre später eine Mitwirkung der Elizabeth-Duncan-Schule am Musikfest des Mozarteums – sie scheiterte am Ausbruch des Ersten Weltkriegs.)
Auf Standortsuche, Impulse von anderswo
Im Folgenden soll auch nicht die Rede sein vom Schicksal der Elizabeth-Duncan-Schule vor und nach dem Kriegsende. Mindestens zwei Aspekte müssten bei einer näheren Beschäftigung mit diesem Abschnitt der Existenz der Schule zur Sprache kommen: Welche Beziehung hatte die Schulleitung zu den nationalsozialistischen Machthabern (die vom Deutschen Reich verhängte „1000-Mark-Sperre“ hat zur Schließung der Kleßheimer Schule geführt; 1935 wurde München zum neuen Standort)? Und, längerfristig gesehen, wieso nahm – und dies in Österreich wie in Deutschland – das Interesse sowohl an der Duncan selbst wie an der Schule ab? Fakt ist: Die damals im Besitz des „Reichsgau Niederdonau“ befindliche Villa Gutmann in Baden bei Wien wird 1944/45 vorübergehender Aufenthaltsort der Elizabeth-Duncan-Schule; Drück hält 1944 einen Sommerlehrgang im Stift Zwettel ab.
Auch die nun folgenden Jahrzehnte können hier nicht eingehender abgehandelt werden, denn sie harren der Aufarbeitung. Dies bedeutet jedoch keineswegs – wie in weiterer Folge sehr wohl zu sehen sein wird –, dass die „Idee Duncan“ selbst sowie die Ausbildung in ihrem Sinn verschwunden wären. Und dies bedeutet auch nicht, dass die Ziehtöchter der Duncan – etwa Anna Duncan – und deren Schüler und Enkelschüler – etwa Schwartz – inzwischen untätig gewesen wären. England und die USA nehmen jetzt die Duncan-Stafette in die Hand. Eine (Exil-)Wienerin ist doch dabei: Pisk choreografiert die Tänze für Vanessa Redgrave im Film „Isadora“ von Karel Reisz (1968). In den USA hat Annabelle Gamson, eine Schülerin von Levien, ein Programm mit Rekonstruktionen von Duncan-Werken zusammengestellt. Daraus werden 1976 beim dem von Gerhard Brunner geleiteten Festival New Dance in Graz folgende Tänze gezeigt: „Six Waltzes“ (Brahms), „Mother“ (Skrjabin) und „Etude“ (Skrjabin).
Mit einem Mal nimmt die Beschäftigung mit der Duncan – dies geschieht mit dem wiedererwachten Interesse am Modernen Tanz – Fahrt auf. In Wien ist die Amerikanerin Jackie Rauch (Waltz) tätig, sie ist ehemaliges Mitglied von Maria-Theresa Duncans „Isadora Duncan Heritage Group“ und tritt 1982 Liz Kings Tanztheater Wien bei. Leider bekommt sie in Wien keine Gelegenheit, ihr körperarchiviertes Wissen weiterzugeben. Maurice Béjarts „Isadora“ (ursprünglich für Maija Plissezkaja kreiert) wird mit Marcia Haydée in der Titelrolle als Gastspiel des Stuttgarter Balletts bei dem ebenfalls von Brunner geleiteten TANZ᾽84 im Theater an der Wien aufgeführt. Fast unbeachtet präsentiert der Ex-Österreicher Paul Leonard 1988 im Hotel Stefanie in Wien seinen auf Anna Duncans Unterricht basierenden „New harmonic dance“. Im Rahmen von Brunners TANZ᾽92 präsentiert Utha’s Repertory Dance Theatre im Ronacher Gamsons Rekonstruktionen von Isadora Duncans „Valse Brillante“ (Chopin), „Prelude“ (Chopin), „Water Study“ (Schubert), „Dance of the Furies“ (Gluck). Und auch die Österreicherin Mirjam Sögner soll erwähnt werden. Sie befasst sich in „Dancer of the Future“ in verschiedenen Aufführungsformaten mit Isadora Duncan (Black Box Version 2016/17, Gallery Version 2018, Sight Specific Version 2020).
All die Genannten und die im Grunde nur flüchtig festgehaltenen Daten, Fakten und Begebenheiten bezeugen die fast ständige – zuweilen unterschwellige – Präsenz der Duncan in Österreich. Ein in anderen Ländern in ähnlicher Weise vorgenommenes Unterfangen würde wohl ähnliche Ergebnisse liefern.
Enter Anna Duncan, eine der „Isadorables“
Endlich soll aber nun von jener Person die Rede sein, deren Fotos von Arnold Genthe aus den Jahren 1919 und 1926 oft als „Symbolfotos“ für das Stück von Bel und nun für einen Wiener Workshop dienen: Anna Duncan. Nicht nur weil Anna für dieses Stück via Levien als Mittlerin zwischen Isadora Duncan und Schwartz dient, soll auf sie näher eingegangen werden. Es gibt dafür noch einen anderen Grund, nämlich den, dass Annas Leben Beispiel dafür ist, wie weitreichend Isadoras künstlerisches Tun in der Zeit nach 1900 war.
Die Geschichte lautet wie folgt: Als Anna Denzler wird sie am 21. Dezember 1894 in Moudon im Schweizer Kanton Waadt geboren. 1898 übersiedelt die Familie nach Klagenfurt. Dort findet der Vater im November 1904 in der „Neuen Freien Presse“ einen Bericht über eine Schulgründung in Berlin-Grunewald, die mit dem Namen Isadora Duncan verbunden ist. Die Schule ist bestrebt, der „Idee Duncan“ und anderen Reformkonzepten sowie antiken Vorbildern folgend, Kinder zu freien Individuen zu erziehen. Ziel ist es, Grundlagen für eine freie Entfaltung von Körper und Geist zu schaffen. Und, so wird betont: „Bei der Aufnahme der Schülerinnen wird in nationaler und sozialer Beziehung kein Unterschied gemacht werden. Die Schule ist demokratisch und international. Auch vater- und mutterlose Kinder, wie Kinder von unbekannter Herkunft sind willkommen.“
Vater Denzler meint, dass eine Schule solcher Art sehr gut für seine Tochter geeignet wäre. Man bricht also von Klagenfurt aus auf, Anna tanzt in der Grunewaldschule vor und wird aufgenommen (mit dem in einem der ersten Zeitungsberichte über die neue Schule hervorgehobenen „Kärntner Dirndl“ kann nur sie gemeint sein). Vater und Tochter verabschieden sich voneinander; wann sie einander wiedersahen, ist nicht überliefert, denn es gehörte zum Credo der Schule, die Bereiche der Eltern und jene der Schule nicht ineinandergreifen zu lassen. Anna wird die „Aura Isadora“, die sie betreten hat, nicht mehr verlassen. Geleitet wird die Schule von der Schwester Isadoras, Elizabeth. Dazu Federn: „War Isadora die geniale Anregerin und die Bühnenerscheinung, so besaß Elisabeth die klare Vernunft und stetige Treue zum Werk.“ Die Unterrichtsfächer der Mädchen sind: Tanz, Gymnastik, Klavier, Gesang, Zeichenunterricht, Naturkunde und „Schulunterricht“. Bereits im Juli 1905 tanzen die Kinder mit Isadora in der Kroll-Oper in Berlin, im Oktober im Theater des Westens, anschließend geht es auf Deutschland-Tournee. Ein Foto von Anna illustriert in der 1906 erschienenen Broschüre des Vereins zur Unterstützung und Erhaltung der Schule die Auffassung Duncans von kindgerechtem Tanzen. 1907 tritt Duncan mit den Kindern anlässlich des 300-jährigen Mannheimer Stadtjubiläums in einem „Attischen Fest“ auf, die Bühne dafür hat Edward Gordon Craig entworfen. Vorstellungen in den Niederlanden folgen. 1908 gastiert Isadora mit der Schule in St. Petersburg. Dann geht es nach London. Dort wird die Aufführung von John Galsworthy besucht. Der Schriftsteller beschreibt den Tanz der nunmehr 13-jährigen Anna:
„There was one child who particularly enchanted me, a brown haired fairy, crowned with a half-moon of white flowers, who wore a scanty little rose-petal coloured shift that floated about her in the most delightful fashion. She danced as never a child danced. Every inch of her small head and body was full of the sacred fire of motion: and in her little pas-seul she seemed to be the very spirit of movement. One felt that joy had flown down, inhabiting there; one heard the rippling of joy’s laughter. And indeed through all the theatre had risen a rustling and whispering; and sudden burst of laughing rapture.“
Finanzielle Turbulenzen bringen das Unternehmen Duncan-Schule des Öfteren an den Rand seiner Existenz, die Grunewaldschule wird geschlossen, Isadora holt Anna und weitere Schülerinnen zu sich nach Frankreich und eröffnet ein Studio in Neuilly-sur-Seine (die Kernschule verbleibt in Deutschland, sie wird ab 1911 in Darmstadt-Marienhöhe ansässig). 1909 tanzt man im Pariser Gaîté Lyrique, einige der Kinder sind mittlerweile zu eigenständigen Tänzerinnenpersönlichkeiten herangewachsen, für sie wird der französische Schriftsteller Fernand Divoire die Bezeichnung „Isadorables“ finden. Es sind dies neben Anna die Deutschen Maria-Theresa Krüger (Dresden 1895 – New York 1987), Irma Erich-Grimme (Hamburg 1897 – Santa Barbara, Kalifornien 1977), Elisabeth (Lisa) Milker (Dresden 1898 – Dresden 1976), Gretel (Margot) Jehle (Berlin 1900 – Paris 1925) und Erika Lohmann (Hamburg 1901 – Connecticut 1984). 1917 wird in New York jeder dieser sechs Ziehtöchter Isadoras die Änderung des Familiennamens auf „Duncan“ beurkundet.
Bis zur kriegsbedingten Übersiedlung der Schule 1914 in die USA folgt für Anna und ihre fünf Kameradinnen ein ständiges Pendeln zwischen den Unternehmungen von Isadora und Elizabeth: Teilnahme an der Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911, wo Elizabeths Schule mit dem Großen Preis ausgezeichnet wird; Übersiedlung nach Darmstadt, wo Anna erstmals mit Unterrichtsaufgaben betraut wird; in Berlin und Paris Mitwirkung in Isadoras Fassung von Glucks „Orphée“, in die in Paris auch der Tragöde Mounet-Sully einbezogen ist, und der Ruf als Lehrerin an Isadoras neue, von dem Millionär Paris Singer großzügig ausgestattete neue Schule „Dionysion“ in Bellevue/Meudon bei Paris; in St. Petersburg geben Anna und Irma als „Botschafterinnen“ Isadoras eine von Konstantin Stanislawski präsentierte Vorstellung. Es folgt ein Hin und Her zwischen den Kontinenten. Nach dem USA-Debüt der Isadorables 1914 in der New Yorker Carnegie Hall und einer Saison 1915 im Century Opera House geht Isadora mit ihren Schülerinnen wieder nach Europa, wo – statt, wie geplant, die Schule in Griechenland anzusiedeln – die Schweiz Zufluchtsland wird. 1917 wieder in die USA zurückgekehrt, findet unter dem Management von Sol Hurok eine landesweite Tournee der Isadorables statt. Ist nun endlich der Zeitpunkt gekommen, wo man auch in Amerika das in Europa stattfindende revolutionäre Tun der Landsmännin Duncan wirklich wahrnimmt? Und: Was für Aufgaben kommen nun den mittlerweile erwachsenen Isadorables zu? Sind sie eigenständige Tanzkünstlerinnen oder nur bloße Künderinnen einer Prophetin, als die sich Duncan selbst wohl sah? Verfügen sie – künstlerisch wie privat – über eine eigene Identität?
Wie groß eine solche sein kann, bezeugt das Beispiel Anna. Isadora, die ihr ganzes Sein und daher auch ihre Liebesbeziehungen öffentlich auslebt, verliebt sich in ihren Pianisten Walter Rummel. Als Anna nach dem Krieg nach Paris zurückkehrt, wendet sich Rummel von Isadora ab und Anna zu. Gemeinsam begibt man sich 1920 nach Griechenland. Nach Auftritten in Paris in Isadoras „Wagner-Programm“ trennt sich Anna 1921 von ihrer Mentorin, zwei Jahre später von Rummel. Sie kehrt in die USA zurück und tanzt nun gemeinsam mit Lisa und Margot als „Isadora Duncan Dancers“. Der Grund für einen 1924 erfolgten Besuch in Wien ist nicht ersichtlich, zumal Anna 1925 den Unterricht in New York aufnimmt, gleichzeitig aber auch ihre erste Solovorstellung in der New Yorker Theatre Guild gibt.
Awakening-Time
Den folgenden Auftritten Annas in den USA (1927 wieder Carnegie Hall, diesmal mit dem Philadelphia Symphony Orchestra unter Eugene Ormandy; 1928 USA-Tournee und Auftritte mit der Philadelphia Civic Opera Company) sind beispiellose Erfolge beschieden. 1927, ein Zeitpunkt, zu dem ein breiteres Publikum die teilweise erst wachsende amerikanische Tanzmoderne zu schätzen beginnt, stirbt Isadora. Dies löst besonders in den USA einen Sog aus, den Anna zu nützen weiß. Nach Isadoras Tod widmet sie sich dem Erhalt der Kunst und der Choreografie Isadora Duncans. Ihrerseits bildet sie nun Tänzerinnen heran, die das Vermächtnis der Duncan weitertragen werden: Julia Levien und Hortense Kooluris.
Annas Solokarriere ist weiterhin ohne Beispiel: Nachdem sie 1929 wieder in der Carnegie Hall und 1930 in Havanna aufgetreten ist, tanzt sie mit ihren „Anna Duncan Dancers“ im Lewisohn Stadium vor 21 000 Zuschauern. Anna unterrichtet weiterhin, sie stellt 1931 ihre Schülerinnen Irma Duncan zur Verfügung, damit diese ihren Kontrakt mit Hurok erfüllen kann. (Irmas aus sowjetischen Duncan-Schülerinnen bestehendes Tourneeensemble hatte durch eine Rückholaktion seiner Mitglieder in ihre Heimat ein abruptes Ende gefunden; das neue Ensemble nannte sich nun „American Duncan Dancers“.) 1942 tritt Anna zum letzten Mal auf. Der äußere Rahmen dafür ist gut gewählt. Die Veranstaltung, die innerhalb des Jacob’s Pillow Dance Festival stattfindet, trägt den Namen „First Generation of American Theatre and Concert Artists: Anna Duncan – Ruth St. Denis – Ted Shawn“.
1977 gründen Levien und Kooluris die Isadora Duncan Centenary Dance Company. Durch die Duncan-Tänzerin Kathleen Quinlan erhält Anna gegen Ende ihres Lebens Unterstützung beim Verfassen ihrer Geschichte und der Organisation ihres Archivs. Sie stirbt am 6. März 1980 in New York. Zwei Ausstellungen im Stockholmer Tanzmuseum (1995 und 2010) und Veröffentlichungen begleitender Bücher halten die Erinnerung an Anna Duncan wach.
„Unverstellte“, vor allem absichtslose „Natürlichkeit“
Das Movens für Bels Stück „Isadora Duncan“ zu finden, ist nicht leicht. Sicherlich liegen dem Unterfangen bestimmte Aspekte der tradierten Person Duncan zugrunde. Liest man jedoch einige Äußerungen des Konzeptualisten und seiner Protagonistin, vor allem die von Bel, so scheint das Stück – in seinen Anfängen – ein Unternehmen gewesen zu sein, von dem man nicht so recht wusste, warum man sich ihm zuwandte, und weniger noch, wohin es führen könnte. Offenbar gab es kein zielgerichtetes Streben nach einer bestimmten Aussage. Schwartz, die in sich „das Körperwissen Duncan“ trägt, kann doch Konkretes über die Impulse für das Stück artikulieren. Es sei, sagt sie in einem Interview mit Claudia Henne, das „tiefe Bedürfnis nach unverstellter Natürlichkeit“, das am meisten faszinierte, auch sei es für Bel ein Anliegen gewesen, aus ihr, Schwartz, „die elektrisierende Präsenz“ der Duncan herauszuschälen. Die Bewegungen der Duncan werden allgemein als „expressiv“ bezeichnet, eine Auslegung, der sie, Schwartz, keinesfalls folgen mag. „Ich will keine Emphase“, sagt sie, und: „Ich will mein Ego zurückhalten. Du zeigst den Tanz, aber nimmst dein Ego raus.“ Noch immer, seit der ersten Beschäftigung mit dem Tanz der Duncan im New York der Siebzigerjahre, suche sie nach der Essenz ihres Tanzes, heute sei das noch immer so. Übrigens denke sie nicht an die Duncan, wenn sie ein Stück von ihr tanze. Sie gebe keineswegs vor, Duncan zu sein. Doch an der Geschichte des Tanzes interessiert und sich selbst als Zeugin sehend, ist sie überzeugt davon, dass der Tanz der Duncan verloren ginge, führte man ihn nicht aus. Sie sehe sich durchaus als „lebendiges Archiv“, und: Duncan habe in ihr etwas ausgelöst, worin sie sich wiedererkannt habe, und auch das sei heute noch so.
Verglichen mit diesen doch sehr bestimmten Aussagen von Schwartz über das Stück und die dahinter stehenden Intentionen, äußerte sich Bel viel weniger konkret. Er habe noch nicht gewusst, wohin das Stück führen würde, meinte er in der Zeit seiner Entstehung in einem Interview mit Thomas Hahn: „Das wird sich wahrscheinlich erst herausstellen, wenn ich das Stück beendet und es mehrere dutzendmal gesehen habe. Dann werde ich vielleicht überhaupt erst verstehen, warum ich es gemacht habe.“ Da bislang die Pandemie eine oftmalige Aufführung des 2019 kreierten Stücks verhinderte, ist zu hoffen, dass nun Wien mit seinen multiplen Isadora-Bezügen Bel Erhellendes bringt.
PS
Noch einmal zurück zu Isadoras griechischem Knabenchor: Lori Belilove, Gründerin und künstlerische Leiterin der heute in New York ansässigen Isadora Duncan Dance Company, nennt den Griechen Vassos Kanellos als ihren ersten Duncan-Lehrer. Er soll einer der Knaben gewesen sein, die Isadora 1904 aus Athen nach Wien gebracht hat.