Mit William Forsythes Ballett „Impressing the Czar“ brillierte das Royal Ballet of Flanders im Festspielhaus St. Pölten. Fast ein Vierteljahrhundert ist seit der Uraufführung vergangen, dennoch besticht die Choreografie auch heute durch funkelnde Frische und effektvolle Unterhaltung.
Schon nach wenigen Minuten schwirrt mir der Kopf. Das rasante Geschehen auf der zweigeteilten Bühne in prächtigen Kostümen mit goldglitzernden Accessoires verwirrt. So viele Augen, um zu sehen was auf dem erhöhten Schachbrett und links davon im leeren Raum passiert, habe ich nicht. Auch nicht genügend Ohren, um die Musik- und Geräuschkulisse, den Text, das Schluchzen und Lachen, Telefonieren und Schreien zu hören. „Potemkins Unterschrift“ nennt Forsythe den ersten Akt seines dreiteiligen Balletts und versetzt die Zuschauer damit an den Zarenhof in St Petersburg, wo es keineswegs darum geht, dem Zaren zu imponieren. Viel mehr wirft uns der Zeitraffer in eine schwindelnde Reise durch die Kunst- und Ballettgeschichte. Damen in bronzeglänzenden Röcken tummeln sich um den Zarenthron oben, während unten der Faun als Eingeborener mit dem Speer fuchtelt; Neptun droht mit dem Dreizack und zwei Schulmädchen (Vorhut für die 50, die am Ende der überaus unterhaltsamen und nur zu Beginn verwirrenden zwei Stunden, stampfend einen rituellen Reigen aufführen werden) üben sich im Kampfsport, die Zaren treten auf und ab und lassen sich von goldenen Krönchen behüten. Immer wieder tänzeln Ballerinen und Ballerinos heran, zerdehnen, verdrehen überspitzen bekannte klassische Bewegungsabläufe ins überaus Komische. Schnell höre ich auf die surrealen Bilder zu enträtseln, die in rascher Folge einander ablösenden Szenen zu deuten. Ich tue es dem Zaren gleich, lasse mich beeindrucken und hineinziehen in dieses perfekt gebaute Labyrinth, zu dem auch Ariadne keinen Faden liefert. Immer wieder wird die Bühne plötzlich nachtdunkel. Blackout – strahlender Neubeginn. Beethovens süße Musik vermischt sich mit dem rhythmischen Stampfen elektronischer Klänge (Thom Willems) und versetzt in eine Art Rausch voll diffuser Träume.
Dann aber „In The Middle, Somewhat Elevated“ (von Forsythe schon 1987 für das Pariser Ballett geschaffen), der zweite Akt. Virtuos, kühl, geordnet, auf der, bis auf ein Paar vergoldeter Kirschen hoch oben an der Rückwand, dekorationslosen Bühne. Neoklassik im Stil von George Balanchine, zerlegt und neu zusammengesetzt, verdreht und geknickt, eckig, kunstvoll. Durch die hämmernden Klänge Willems’ und die Geschwindigkeit, die Forsythe von den Tanzenden verlangt, strahlt dieses Karussell von neun TänzerInnen eine kalte, gläserne Aggressivität aus. Die TänzerInnen des Royal Ballet of Flanders, allen voran Aki Saito, bestechen durch perfektes Timing und die Exaktheit der geschraubten, jegliche Balance negierenden, Bewegungsmuster Forsythes. So schön und dynamisch dieser zentrale Teil des Balletts ist, zu so tobender Begeisterung er das Publikum im Festspielhaus St. Pölten hingerissen hat, so deutlich lässt gerade diese beeindruckende Sequenz das Alter der Choreografie ablesen. Forsythes Bewegungskanon gehört heute zum Standard zeitgenössischen Balletts und so kann dieses „Erhabene in der Mitte“ zwar begeistern, aber nicht mehr überraschen oder erstaunen.
Der letzte Akt besteht aus drei Teilen: In „La Maison de Mezzo-Prezzo“ (Das Haus der halben Preise) kommt es zum endgültigen Bildersturz: In einer Fernsehshow wird das Ballett vergangener Jahrhunderte samt seinen Requisiten versteigert. Danach führen die 50 Schulmädchen (Faltenrock und Pagenkopf) ihren Stammestanz auf. „Bongo Bongo Nageela“ kann als Satire auf das Corps de Ballet gesehen werden oder einfach als Ausdruck purer Lebensfreude. Das Finale gehört Mr. Pnut, einer Figur mit goldenem Hütchen aus dem ersten Akt. Für „Mr. Pnut Goes to the Big Top“ geht die Mädchenhorde in Kampfstellung, steht Mr. Pnut in Boxhaltung gegenüber. Doch sie haben bereits gesiegt – er hat nichts als ein papierenes Jahrmarktspfeierl entgegenzusetzen.
Gesiegt hat auch das Königliche Ballett von Flandern, dem William Forsythe erlaubt hat das abendfüllende Stück neu einzustudieren. Eine rare Ausnahme, die wohl der Leiterin der Compagnie zu danken ist, war Kathryn Bennetts doch nach ihrer Tanzkarriere beim Stuttgarter Ballett, 15 Jahre lang Ballettmeisterin in Forsythes Frankfurt Ballett. Dennoch bedurfte es einiger Überredungskunst, um Forsythe zu überzeugen, die Rekonstruktion des eindrucksvollen Stückes zu gestatten. Seit der Uraufführung der Version von Kathryn Bennett in Antwerpen (dem Sitz des RBF) 2005 beeindruckt die Compagnie auf ihren Tourneen das Publikum in aller Welt. Das Original hat William Forsythe mit dem Frankfurt Ballett sieben Jahre lang ohne Unterbrechung gezeigt. Dem wiederauferstandene Gustostück sei eine mindestens ebenso lange Lebensspanne gegönnt. Doch bei allem was Forsythe durch den Kopf gegangen sein mag, als er die Choreografie entworfen hat, noch sind die alten Ballettmythen nicht auf dem Misthaufen. Die Mahnung aber, dass sich auch die Tanzwelt weiterdreht, macht immer Eindruck und in diesem Fall auch großes Vergnügen.
Royal Ballet of Flanders: „Impressing the Czar“, Festspielhaus St. Pölten, 19. März 2011