Mit dem Ballett „Orpheus“ hat John Neumeier wieder einmal einen mythologischen Stoff interpretiert und von seinem Hamburg Ballett tanzend erzählen lassen. Er transponiert die Geschichte von Orpheus und Eurydike ins 21. Jahrhundert und stellt die Berufung des Künstlers in den Mittelpunkt. Die Uraufführung fand im Dezember 2009 in Hamburg statt. Im Frühling hat das Ballett im Theater an der Wien eine bejubelte Premiere gefeiert.
John Neumeier ist nicht nur ein begnadeter Künstler sondern auch ein begabter Lehrer. Wer seine Ballette sieht, soll staunen, genießen und auch verstehen. So erzählt er in seiner jüngsten Choreografie als Vorgeschichte von der Geburt des Orpheus. Geheimnisvoll legt er diese Szene an. Nicht von der Mutter, der Muse Kalliope (Anna Laudere) löst sich der Sohn, sondern vom Vater, dem Gott Apollo (Edvin Revazov). In einem lockeren Pas de trois schenkt der Gott seinem Sohn die Kunst Menschen zu verzaubern, die Musik; von der Mutter erhält Orpheus die Inspiration. In Neumeiers Ballett wird die Musik mit dem Tanz gleich gesetzt. Für einen Choreografen kann der Künstler wohl nur ein Tänzer sein, doch um die Gedanken anschaulicher zu gestalten, dient als konkrete Darstellung der Künstlernatur Orpheus’ eine Geige. Daniel Garlitsky spielt, auf der Bühne präsent, zu Herzen gehende traurig-schönen Sonaten des Barockkomponisten Heinrich Ignaz Franz Biber und überlässt sein Instrument immer wieder dem Tänzer (Alexandre Riabko) als Requisit. Neumeier sieht die künstlerische Berufung als zwingend, gegen die sich der damit Beschenkte (Belastete?) nicht wehren darf und kann. Liebe und Verlust sind in Neumeiers Gesichte Zufälle ohne jegliche Logik, die den Künstler von seiner Berufung ablenken, den künstlerischen Ausdruck aber auch vertiefen, die Inspiration beflügeln können.
Neumeiers Orpheus beginnt ganz unten, auf der Straße, doch bald erobert er den Konzertsaal, das noble Publikum liegt ihm zu Füßen. Dorthin folgt ihm auch Eurydike, der er als Straßenmusiker zum ersten Mal begegnet ist. Mehr als sie (zart, aber ganz und gar irdisch im bunten Flatterkleidchen Hélène Bouchet), die eher vergnügt tändelt, entflammt er in verzehrender Liebe.
Beflügelt spielt er sein Solo, den Kopf in den Wolken empfängt er den Applaus. Da reißt ihn ein Krachen und Knirschen aus den Träumen, das bis dahin verschlossene Tor zur Unterwelt öffnet sich, ein Autowrack stürzt herunter, eine Leiche rollt heraus. Eurydike ist tot. Das Ende der Geschichte ist unabänderlich. Orpheus, halb wahnsinnig, erhält, geführt von Hermes, den Neumeier „den Seelengeleiter“ nennt (Yohan Stegli) die Chance Eurydike aus dem Hades zurück zu holen, doch er hält sich nicht an die Regeln, will der verlorenen Geliebten ins Antlitz schauen, dreht sich um und hat sie für immer verloren. Ob ihm die Kunst geblieben ist? Das letzte Bild zeigt Orpheus auf dem Konzertpodium. Er ist wieder da, seine Kunst ist wie neu. Doch das Publikum versteht sie nicht mehr, unempfänglich und gelangweilt wendet sich die Gsellschaft ab, verlässt den Saal. Der Künstler ist allein.
Wie immer ist Neumeier auch für Kostüme und Licht verantwortlich, für das Bühnenbild – dominiert vom Tor zur Unterwelt oder zur Erde, das um die eigene Achse bewegt werden kann und als waagrechter Spiegel das Geschehen auf der Bühne reflektiert – zeichnet Ferdinand Wögerbauer. Die Musik zu dem zweiteiligen Ballett hat Neumeier mit Bedacht gewählt: Igor Strawinskys zwei Ballettkompositionen „Apollon Musagète“ (in der berühmten Choreografie von George Balanchine „Apollo“) und „Orpheus“, Sonaten von Biber und Lieder aus dem Album „Orpheus the Lowdown“ von Peter Blegvad & Andy Partridge, die vor allem in der gespenstischen und beklemmenden Szene im Reich der Schatten erklingt.
Weniger beklemmend sind die beiden Szenen in denen Neumeier die Wirkung von Orpheus' Musik auf die Natur (Flüsse treten über die Ufer, Vögel hören zu singen und fliegen auf) darstellen will. Da lässt er eine Art von griechischem Chor mit Laub im Haar die Arme schwingen und die Köpfe neigen, denn die Damen und Herren des Corps sind „Bäume und Flüsse“. Abgesehen von den beiden Auftritten der „Bäume und Flüsse“ erlaubt sich Neumeier keinerlei Üppigkeiten und Schnörkel. Er erzählt seine Geschichte schlicht, unverkrampft (im Gegensatz zum 2009 in Wien gezeigten Ballett „Tod in Venedig“, in dem sich Neumeier mit dem gleichen Thema – Freud und Leid des Künstlerlebens – beschäftigt) und auf Verständlichkeit bedacht. Die Bewegungen der TänzerInnen orientieren sich an der Vertikalen, erhobene Arme, in den Himmel gehievte Tänzerinnen, wunderbare Bilder in Beachtung der Zentralperspektive und immer wieder edle Pas de trois. Bei all der getanzten „edlen Einfalt und stillen Größe“ (Apoll ist schließlich nicht nur der Gott Künste sondern auch der Mäßigung) schöpft Neuemier durchaus aus seinem Bewegungsrepertoire, das sich allmählich von der beim Publikum beliebten Neoklassik entfernt, frisch und neu wirkt, doch bleibt die Emotion ein wenig auf der Strecke. Vermutlich liegt dem Künstler, der über die Kunst (im Ballett) erzählt, diesmal nicht so viel daran, sein Publikum aufzuwühlen. Nicht Herz und Schmerz stehen für Neumeier im Mittelpunkt, sondern das Künstlerschicksal.
Fast hätte ich aber doch weinen müssen. Wenn Orpheus Eurydike endgültig verliert, weil er sich nicht beherrschen kann, nimmt Neumeier den Song „Eurydice“ aus dem genannten Album von Blegvad & Partridge und die beiden haben als Text ein Gedicht von Rainer Maria Rilke vertont. Die Worte „Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein erfüllte sie wie Fülle. … Sie war schon Wurzel“, kann ich nicht trockenen Auges hören. Hermes sieht Orpheus’ Vergehen, ruft erschreckt aus: „Er hat sich umgewendet.“ Doch Eurydike begreift nichts „und sagt leise: Wer?“ Sie ist schon nicht mehr von dieser Welt, bäumt sich noch ein paar Mal auf und windet sich, als wollte sie („schon Wurzel“) in die Erde zurückkriechen. Doch Orpheus muss bleiben, verzichtet künftighin auf die irdische Liebe, hält sich von den Frauen fern, und wird von diesen, den wütenden Mänaden, zerrissen. Das erspart uns John Neumeier und schenkt uns diesmal mit seinem Ballett mehr Stoff zum Nachdenken als Pathos und Gefühlsduselei. Abgeklärt aber ist John Neumeier noch lange nicht (hoffentlich), aber eine Art von klärender Reinigung ist wohltuend spürbar.
„Orpheus“ von John Neumeier, Gastspiel des Hamburg Ballett, 6. Mai 2011, Theater an der Wien.