Jochen Ulrich, Choreograf und Ballettchef am Linzer Landestheater, beschäftigte sich in seinem dritten Ballett über bildende Kunst und Künstler mit dem Maler und Bildhauer Michelangelo und schuf zur Musik von Arvo Pärt und Benjamin Britten einen aufregenden Tanzabend. Martin Dvorák, Wallace Jones und Fabrice Jucquois verkörperten im Trio den überragenden Renaissancekünstler.
Das Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben, zwischen Idee und Ausführung, zwischen Auftrag und Inspiration, zwischen körperlicher Liebe und geistigem Streben ist in Jochen Ulrichs Balletten immer wieder als Thema zu finden. Mit zwei herausragenden Malern hat Ulrich sich bereits choreografisch beschäftigt: „Goya – danzas negras“ (Oper Köln, 1995) und „Caravaggio“ (Tiroler Landestheater, 2004). Am Linzer Landestheaters hat er nun Michelangelo Buonarotti auf die Bühne gestellt. Gleich dreifach und mit vielen Figuren der großen Werke.
Denn nicht um die Erzählung eines Lebenslaufes ging es Ulrich, sondern um „Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks“, die ein Künstler zu erdulden hat. Aufgerieben zwischen den Anforderungen der Auftraggeber (für Michelangelo nach Lorenzo de’ Medici, gleich neun Päpste) und seinem künstlerischen Credo, mit der Materie kämpfend, die sich nicht immer dem Konzept im Kopf fügen will, geht der Künstler einen steinigen Weg, auf dem er immer wieder stolpern muss. Am Ende (des Balletts) findet er zu sich selbst, wird sich bewusst, dass es seine Aufgabe ist, allen Widerständen zu trotzen, weil er Großes schaffen kann. Der Geliebte wird zum Modell, die Liebe wird in Kunst verwandelt.
Mit dem Konzept, die Person Michelangelos von drei Tänzern (keineswegs in drei Seelen aufgespaltet) verkörpern zu lassen, und nicht die Biographie sondern die Werke des Künstlers und ihre Entstehung ins Zentrum des Balletts zu stellen, hat Ulrich in realen und metaphorischen Szenen, aus unterschiedlicher Blickrichtungen im Wechsel von Spannung und Entspannung nicht nur einen fesselnden Tanzabend geschaffen, sondern auch fesselnde Anregungen gegeben, über den Künstler an sich und die Kunst allgemein nachzudenken.
In einem abstrakten Raum bewegen sich die TänzerInnen anfangs unter einem bedrohlich über ihnen hängenden weißen Marmorblock, der im zweiten Teil als einladende, berührbare Fläche erscheint, die dem Blick immer wieder auf neue Instrumentengruppen des im Bühnenhintergrund spielenden Bruckner Orchesters frei gibt. Dennis Russel Davis dirigiert einfühlsam und ohne Hektik. Fst möchte man meinen, Pärt und Britten hätten die Werke eigens für dieses Ballett komponiert. Brittens „Sinfonia da Requiem“(1940) und Pärts „Lamentate Für Klavier und Orchester (2002), mit Pärts „Collage über B-A-C-H“, dem „Cantus in Memory of Benjamin Britten“ und „Spiegel im Spiegel“ zu Beginn des Balletts, bieten nicht nur Dynamik sondern auch nahezu religiöse Tiefe und Getragenheit, sodass Ulrich innige langsame Passagen gegen die aufwühlenden Szenen mit Sex und Gewalt setzen konnte. In seiner Tanzsprache, die das kleine Linzer Ensemble perfekt inkorporiert hat, ist die klassische Basis nur noch als schemenhafte Erinnerung zu ahnen. In der Auseinandersetzung der Dreieinigkeit des Künstlers mit den Werken, Skizzen und Figuren, den Auftraggebern, Modellen und GesprächspartnerInnen konnte der Choreograf auch ganz neue Ausdrucksmöglichkeiten finden.
Das Linzer Publikum hat seinen Ballettchef längst zum Star erklärt und ehrte ihn samt seiner Balletttruppe mit lang anhaltenden Ovationen.
"Michelangelo", Ballett von Jochen Ulrich, Uraufführung, Linzer Landestheater, 8. Oktober 2011