erinnern / Erinnerung /vergessen. Das krampfhaft formulierte Motto der Vorstellungen im Rahmen von Österreich TANZT im Festspielhaus St. Pölten forderte die TanzkünstlerInnen auf, sich zu erinnern und dem Tanz etwas von der ihm innewohnenden Flüchtigkeit zu nehmen. Gelungen ist das immer dann, wenn die Künstlerinnen ganz selbstverständlich davon erzählten, woran sie sich erinnern (wollen).
Zum Beispiel Liz King, die sich an eine ihrer lang zurückliegenden Produktionen erinnert und sie mit jungen TänzerInnen neu einstudiert hat. Die Erinnerung an „Ikarus & Newton“, uraufgeführt 1991 am Stadttheater Heidelberg, bleibt Kings Privatangelegenheit, das Publikum sah eine frische Aufführung, von Kings Companie D.ID Dance Identity perfekt und schwungvoll getanzt. Fast in Zeitlupe mit vorsichtigen Bewegungen, die an Tai Chi gemahnen, beginnen die TänzerInnen den Raum zu erforschen, werden im Lauf der gut 50 Minuten immer sicherer und schneller, treten als SolistInnen und im Duo hervor, formieren sich wieder zur Gruppe, die schließlich wie ein einziger Körper zu Boden stürzt. Das pure Vergnügen, das diese Aufführung bietet, lasse ich mir durch den kryptischen Titel nicht verderben.
„solo series / part one“ nennt Anna Knapp lakonisch ihre Choreografie. Es ist der erste Teil einer Arbeitsreihe, in der sich Knapp „mit den im Körper eingeschriebenen Spuren und dem darin ruhenden Potenzial für die Zukunft“ befasst. Auch diese komplizierten Gedankengänge sollen mich nicht irritieren. Reizvoller und schlauer wäre es sicher, die Lektüre der Programmtexte auf später zu verschieben. Ich vergesse das Geschriebene und genieße mit Staunen und Zittern Stefanie Wiesers Auftritt. An schlimme Zeiten muss sich die junge Frau erinnern, so wütend, aggressiv und auch traurig ist sie. Der Mund ist zum Schrei geöffnet, die Welt um sie herum schwankt, eine schwere Last drückt die Schultern nieder, spastische Bewegungen zeigen ihren Schmerz. Wieser ist eine kräftige Tänzerin mit durchschlagender Bühnenpräsenz (Lichtdesign Veronika Mayerböck) und eindringlicher Mimik. Sie ist wesentlich beteiligt am Erfolg des ersten Teils dieser „solo series“.
In seiner eigenen Fußspur bewegt sich Georg Blaschke, wenn er sich mit seinem (verstorbenen) Vater auf eine Plattform stellt. Ein Männerstück klar, aber dennoch verständlich. Ausgehend von Super 8 Filmen aus der Kindheit erzählt Blaschke in „On The Platform With My Father“ vom Erwachsenwerden, vom Suchen nach Zielen und dem Erfüllen der väterlichen Ansprüche. Erinnerungshilfen sind dabei alte Vinyl-Schallplatten, die er bedächtig und ehrfürchtig auf den Plattenspieler legt. Ein Stapel wird kleiner, der andere größer. Am Ende ist der ehemalige Bub bei sich selbst angekommen, ein Mann geworden, der selbstständig auf seiner eigenen Plattform stehen kann.
Eine außergewöhnliche Plattform hat Elke Pichler aufgebaut. Die Künstlerin geht den Spuren der Tänzerin Susanne Schmida nach, die in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihren Tanzunterricht mit der „Raumliniengymnastik“ theoretisch untermauert hat. Der Zufall spielt eine wesentliche Rolle bei der Entstehung des eindrucksvollen Stückes „Gefühl Gesicht Gestalt“. Nicht nur dass Pichler mit ihrer Kompanie FeinSinn zufällig auf den Nachlass Schmidas gestoßen ist, besteht FeinSinn auch aus einer spartenübergreifenden KünstlerInnengruppe, deren Kern eine Band ist, die die Performance im Festspielhaus St. Pölten mitagierend und –spielend begleitet hat. Überdies hat die Choreografin auch zwei SchülerInnen Schmidas gefunden (Sieglinde Gerold, Wolfgang Kühn), die das Erinnern tanzen, während sie selbst das Wollen und Wirken der Ausdruckstänzerin Schmida ins Heute übersetzt und tanzend kommentiert. Das tat sie mit klugem Humor, Feingefühl und erfrischender Distanz. Zudem auch mit dem Wissen, dass das junge Publikum kaum eine Ahnung von Susanne Schmida haben kann. Videoeinspielungen, live zitierte Texte und die Rekonstruktion von Bewegungsabläufen der „Raumliniengymnastik“ geben einen interessanten Einblick in die Arbeit der Tänzerin Susanne Schmida. Die Tänzerin Elke Pichler schlägt in einem faszinierendem Duett mit einem Tisch die Brücke zur Gegenwart. Im weißen Licht zeichnen sich scharf die Schlagschatten des bewegten Körpers ab, eine Einladung zum Träumen, zur Flucht aus der Wirklichkeit. Nichts da. Einer fährt mit dem Tretroller rund um die Bühne. Es darf gelacht werden. Erinnerung, sogar Ehrung, glückt auch ohne Pathos.
Österreich TANZT 2012 im Festspielhaus St. Pölten. 1. und 3. Abend am 6. und 8. 6. 2012