Ein Spiel mit Rhythmus, Licht und Pappendeckel-Rechtecken zeigt William Forsythe in seinem jüngsten Stück „Sider“. Viel nachdenken soll das Publikum nicht. Nicht über den Titel (aus dem englischen Side / Seite abgeleitet), nicht über die Bedeutung der Performance, nicht über das, was die TänzerInnen antreibt. Denn was sie hören, bleibt dem Publikum verborgen, was dem Publikum zu Ohren kommt, können die TänzerInnen nicht hören. Sich einfach dem Vergnügen hinzugeben, ist gewinnbringender als jegliche Interpretation.
Allmählich füllt sich die leere Bühne. Nacheinander treten die Tänzerinnen auf, tragen die Pappendeckel als Wände, Schilde, Waffen vor sich her, schleifen sie hinter sich nach, hopsen damit herum, bauen damit enge und weite Räume und auch ein Sarg kann daraus werden. Die Pappplatten sind nicht nur eine Art Alter Ego der Tanzenden sondern auch für vielfältige Geräusche zu gebrauchen. Gemeinsam mit dumpfen Trommeltönen, leisem Rauschen und lautem Brummen erzeugen sie die Musik von „Sider“. Doch die TänzerInnen hören diese Geräuschkulisse nicht, vermutlich auch nicht die von einer komischen Figur in rosa Gewand gemurmelten und rezitierten Texte. Was den Tänzern – für das Publikum unhörbar – ins Ohr gespielt wird, sind nicht nur die in die Ohrstöpsel vom unsichtbaren Choreografen gesendeten Befehle sondern auch die Tonspur einer gefilmten elisabethanischen Tragödie. Den komplexen Sprachrhythmus, der die Aufführungen zur Zeit Shakespeares kennzeichnet und in England auch heute noch Tradition hat, vergleicht Forsythe mit der Tradition des klassischen Tanzes. Für „Sider“ spielt er diesen Rhythmus den TänzerInnen zu, damit sie ihre Bewegungen danach richten.
Wer das Programmheft vor der Aufführung gelesen oder gar Forsythes Einführung angehört hat, weiß das. Der Rest des Publikums gibt sich den Bewegungen der exzellenten TänzerInnen hin und tröstet sich damit, dass Forsythe jegliche Interpretation seiner Choreografie ablehnt. Wie der Abend genau abläuft ist nicht festgeschrieben, durch die anregenden Befehle und die (geheim) zugespielte Sprachmusik ist der Company viel Raum für Improvisation gegeben.
Dorothee Merg hat die Tänzer und Tänzerinnen teilweise mit Sturmhauben vermummt, in enge lange Hosen und bunte Oberteile mit unerschiedlichen Mustern gesteckt, stattet aber auch einige mit plissierten weißen Krägen über schwarzer Seide und weinrotem Samt aus. Das buntscheckige Gewoge auf der Bühne formt sich mit den braunen Pappendeckeln zu einer sich stets wandelnden Installation. Kommuniziert wird in dieser tanzenden Installation kaum und wenn, dann nicht gerade freundlich. Zwei Pappendeckelwände werden so eng gestellt, dass der Partner kaum durchschlüpfen kann, ein anderer wird mit dem Deckel auf dem Boden gehalten, dass ihm fast die Luft ausgeht und das schöne Haus, das gemeinsam gebaut worden ist, zerfällt in der Sekunde. Der Takt, ob in Sekunden oder Minuten, wird auch durch das von Hell zu Dunkel wechselnde Licht gegeben. Blackouts und blitzschnelle An-, Aus-Effekte (Design Spencer Finch) ergeben eine Abfolge von Szenen in unterschiedlicher Länge. Genießt man die Solos, Duos, Trios, das Robben, Kriechen und Tanzen (in bekannter Forsythe-Manier), das Schleppen, Schieben und Fallenlassen der Platten wie den immer wieder aufblitzenden Witz, dann erübrigt sich jedes Nachdenken über Sinn und Bedeutung von „Sider“. Vieles bleibt rätselhaft, doch genau das macht dieses Spiel so spannend und abwechslungsreich. Und in jedem Fall sehenswert, durch die – noch einmal sei es erwähnt – beeindruckende Performance der großartigen TänzerInnen.
The Forsythe Company: „Sider“, Österreichische Erstaufführung, 7. Dezember 2012, Tanzquartier. Zweite Vorstellung am 8. Dezember 2012