Für die Gründung einer neuen Compagnie erhielt Antje Pfundtner als erste Choreographin eine auf drei Jahre angelegte Konzeptionsförderung der Hamburger Kulturbehörde. Eine Auseinandersetzung mit dem „Nussknacker“ bildet den Anfang ihrer Arbeit im Rahmen dieser Förderung.
Ihre Ausbildung erhielt Antje Pfundtner, die seit 2001 in Hamburg arbeitet, an der Amsterdamse Hogeschool voor de Kunsten. Als Tänzerin trat sie in Produktionen von Michele Anne de Mey, Marcelo Evelin, Tony Vezich und David Hernandez auf. Mit ihrem Solo „eigenSinn“ (2003), einem mit feinem Humor gezeichneten Stück, begann sie mit eigenen choreographischen Arbeiten, darunter auch ein Kooperationsprojekt mit der chinesischen Choreographin Wen Hui vom Living Dance Studio in Peking (2006). Kennzeichnend für Antje Pfundtners Form der Inszenierung ist eine genau konzipierte Mischung aus Tanz, Performance, Text und Schauspiel.
Sehr bewusst hat Antje Pfundtner ihr Stück „Nussknacker“ genannt. Sie wolle eine Überschreibung, aber keine weitere „Nussknacker“-Variante zeigen, so sagte sie vorab. Keine Interpretation. Allerdings: „… der Titel bleibt, weil jede Umschreibung den Charakter kaputt machen würde.“ So lässt es sich kaum umgehen, dass die Titelwahl Erwartungen weckt. An eine wie auch immer gestaltete Auseinandersetzung mit dem berühmten Petipa-Ballett, das auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Nussknacker und der Mäusekönig“ basiert. Doch eine solche Auseinandersetzung findet bei Pfundtner nur andeutungsweise statt. Trotz witziger, übergroßer Nussknacker-Maske bleibt der Bezug zur Vorlage vage. Am stärksten ist es noch die Musik, die irgendwie vertraut klingt. Sven Kacirek, der schon mehrfach mit Antje Pfundtner zusammengearbeitet hat, schrieb seine Komposition entlang von Tschaikowskys Klavierpartitur.
Es ist also weniger dieses konkrete Stück aus dem Ballettrepertoire als vielmehr ein Verweis auf das klassische Ballett allgemein, der inszeniert wird. Bewegungsvokabular, Gesten, Positionen werden zitiert. Heather Jurgensen, viele Jahre erste Solistin beim Hamburg Ballett und inzwischen stellvertretende Direktorin des Kieler Balletts, hat den entsprechenden Gestus mit dem Ensemble einstudiert. Aber nicht nur durch den Tanz selbst, sondern auch über die Requisiten verweist Pfundtner auf den Spitzentanz. Vor allem das Tutu funktioniert als Synonym schlechthin. Und Tutus gibt es viele. Eine Rückwand der von Sabine Kohlstedt und Yvonne Marcour ausgestatteten Bühne besteht aus riesigen Mengen bunten Tüllstoffes. An anderer Stelle liegen Tutus zu einem so hohen Berg aufgetürmt, dass man sich hinter ihnen verstecken kann.
Es ist das Thema Erinnerung, das Antje Pfundtner am „Nussknacker“ interessiert. Die Motive des Ballettklassikers benutzt sie als Folie für persönliche Reflexionen. Und so beginnt sie den Abend, durch einen Spalt des Vorhangs tretend, mit einer kleinen Erzählung über ihren Bruder und sich selbst als Kinder, über Adventszeit, Träume und Wünsche. Am rührendsten ist dabei sicher der Blick auf das Mädchen in der Tanzschule. Stets in der letzten Reihe, nahezu unsichtbar für die Ballettlehrerin, vermochte das schüchterne Kind, von dem Antje Pfundtner berichtet, nur mit Brille auf der Nase oder Teebeutel in der Hosentasche zu tanzen.
Mit ihren acht Tänzern versucht Pfundtner, solchen Momenten Ausdruck zu verleihen. Zu Beginn dominieren Soli und Gruppenvariationen, allesamt barfuß getanzt. Zum Ende des Stückes sind es einige Paaraktionen, die das tänzerische Vokabular bestimmen. Dabei fällt auf, dass fast alle Bewegungen gehalten werden, selten ist eine weich ausklingende Geste zu sehen. Die Tänzer bleiben in ihren Aktionen für sich, es gibt kein Wechselspiel, kein Beziehungsgeflecht. Allein an der Zustimmung der Zuschauer scheint den Darstellern gelegen. Fast ununterbrochen schauen sie ins Publikum, selbst in der liegenden Drehung versuchen sie, den Kontakt zu halten und die Gäste auf ihren fernen Plätzen anzulächeln. Oder sind es gar die Chormitglieder, mit denen verschwörerische Blicke getauscht werden? Als Schlussclou erheben sich überraschend zahlreiche Hobbysänger von ihren Plätzen und stimmen in das vorsichtige Lalala der Tänzer mit ein.
Antje Pfundtner: „Nussknacker“ am 12. Dezember 2012 in der Hamburger Kampnagelfabrik. Letzte Vorstellung: 15. Dezember 2012