Die letzte Ballettpremiere dieser Saison in Linz galt einem Werk des verstorbenen Choreografen und Ballettchef Jochen Ulrich. Seine düstere Version von Shakespeares Liebesgeschichte „Romeo und Julia“ zur Musik Sergej Prokofjews bestach im neuen Musiktheater besonders durch die aggressiven akrobatischen Gruppenszenen.
Verona ist nur noch eine Ruine, überall Stacheldraht, überall Soldaten, Spione, Folterknechte. Die Capulets haben ein faschistoides Regime errichtet, Töchterchen Julia wird als Gefangene gehalten, der grausame Tybalt hat ein Verhältnis mit seiner herrschsüchtigen Tante, der Mutter Julias. Wenn diese entmenschte Familie ein Fest feiert, dann ist dieses nicht fröhlich sondern gespenstisch. Freudlos und frömmelnd knien sie vor dem goldenen Altar, um gleich darauf mit daher gelaufenen jungen Mädchen eine Orgie zu feiern.
Diese Punkkinder gehören zur Gang des jungen Romeo, die sich auf der Straße versammelt und immer wieder versucht, sich gegen die Polizei der Capulets zu wehren. Mitten drin in grausamen Kämpfen und kindlichem Schabernack treffen Romeo und Julia aufeinander. Liebe auf den ersten Blick, Tod im letzten Akt.
Ulrichs Ballett, 1991 für das Tanzforum Köln geschaffen, ist eine von Beginn an düstere Geschichte, von Gewalt und Grausamkeit, Obszönität und bitterer Ironie (Pater Lorenzo ist ein Schamane oder Yogi, der sich unter der goldenen Himmelsleiter die Schlaftropfen für Julia aus dem Bauch zaubert) geprägt. Was Ulrich vorschwebte, dass in auch in diesem Szenario zwischen Furcht und Folter naives Liebesglück wenigstens für wenige Augenblicke eine Chance hat und die brutale Realität auslöscht, ist in der von Darie Cardyn und Leszek Kuligowski (beide ehemalige Mitglieder im Tanzforum Köln) einstudierten und für das Musiktheater adaptierten Version nicht geglückt. Der Kontrast zwischen den akrobatischen Kampfszenen, wenn die Streetgang der Montagues mit den martialischen, von Tybalt angeführten Mannen der Capulets zusammentrifft und den intimen hellen Szenen zwischen Romeo und Julia, wirkt flau. Da kann auch Prokofjew (gespielt vom Bruckner Orchester Linz unter Dennis Russell Davies) nicht helfen. Obwohl seine Musik zwingend ist, so zwingend, dass sich manche Bewegungen von selbst ergeben und Ulrich für die Liebesszenen aufs neoklassische Repertoire zurück gegriffen hat. Jonatan Salgado Romero ist ein herziger Romeo; Agnes Schmetterer eine liebliche, blonde Julia. Doch gelingt es beiden nicht, Liebesglück und Todesangst sichtbar zu machen. Zu sehr sind sie mit der schwierigen Technik, dem vom Komponisten vorgegebenen wechselnden Rhythmus beschäftigt. Was immer mit den beiden, manchmal sogar etwas unbeholfen tanzenden, Figuren passiert – es lässt kalt.
Weniger kalt lässt Ziga Jereb als Tybalt. Ein kaltblütiger Sadist und Vergewaltiger und der eigentliche Herrscher im versehrten Verona, der alte Capulet sitzt im Rollstuhl, aus dem er von den auch nicht zimperlichen Punks gekippt wird. Irene Bauer gibt die geile Lady Capulet, die an den kruden Umarmungen Tybalts mehr interessiert ist als am Leben ihrer Tochter. Eine wichtige Rolle hat Ulrich der Amme Julias zugeteilt und Anna Sterbová tanzt sie eindrucksvoll. Mercutio und Benvolio (Alexander Novikov, Emanuele Rosa) sind übermütig und akrobatisch unterwegs, ganz im Sinne der ihnen zugewiesenen Musik, die die Zeitlosigkeit offenbar in sich hat.
Doch der Meister fehlt an allen Ecken und Enden, was an den vielen Umbaupausen samt rotem Samtvorhang besonders zu spüren ist. Gelungen ist die Lichtregie, die die kalten Massenszenen effektvoll gegen die hellen Liebesszenen setzt. Die Kostüme von Marie-Thérèse Cramer wirken auch heute noch perfekt. Sie unterstreichen die Zeitlosigkeit, die Ulrich anstrebte, und erinnern mit bunt gefütterten Capes und plissierter Seide zugleich an die Renaissance, in der Shakespeares Tragödie spielt.
Dass Ulrich die Original-Musik (ohne Kürzungen) verwendet, ist eindeutig ein Missgriff. Zwar sterben Romeo und Julia ohne großes Tamtam und Abschiedstanz, von Paris, dem abgewiesenen Bräutigam (Matej Pajgert) erfährt man nichts mehr, doch dauert es endlos, bis Julia endlich ihr Fläschchen ansetzt und Romeo die Gruft (unglücklich auf eine hohe Brücke postiert) findet. Die TänzerInnen sind müde und machen nur noch die vorgeschriebenen Gesten, das Orchester ist müde und das Publikum auch. Ob der Meister da etwas geändert hätte? Wir werden es nie erfahren.
Zu erfahren ist leider, dass sich die designierte Linzer Ballettchefin, die 53jährige Mei Hong Lin (bis dato Tanzchefin am Hessischen Staatstheater in Darmstadt), aus der Ferne bereits mit Kündigungen gemeldet hat. Noch ist die ehemalige Tänzerin ganz ihrem derzeitigen Ensemble verhaftet und hat auch für die Saison 2013/14 noch einiges vor in Darmstadt, wie die Programmvorschau verrät. Dementsprechend war sie auch bei der Premiere nicht zu sehen. Nicht gerade beruhigende Nachrichten für die von Jochen Ulrich mit soviel Engagement und Liebe aufgebaute und betreute Linzer Compagnie. Unter diesem Aspekt, war der begeisterte Applaus für Jereb und Sterbová und das gesamte tapfer kämpfende Linzer Ensemble durchaus berechtigt.
„Romeo und Julia“, Ballett zur Musik von Sergej Prokofjew von Jochen Ulrich, Premiere am 25. Mai 2013, Musiktheater Linz.
Weitere Vorstellungen: 30., 31. Mai; 3., 6., 11. Juni 2013.