Gegensätzliches und Doppeldeutiges bestimmt Alain Plates neueste Arbeit. Denn nicht nur der Titel, sonder das gesamte Konzept von „C(h)oeurs“ beruht auf Gegenüberstellungen: Verdi und Wagner, Masse und Individuum, Chor und Tänzer. Das Resultat ist ein berührendes, humanitäres Werk, das nun zum insgesamt fünften Mal im Festspielhaus St. Pölten gezeigt wurde.
Gewaltige Bilderflut. Die Opernchöre der Jahres-Regenten Verdi und Wagner werden zum Ausgangspunkt für Platels emotionale Bilder von dringlicher Aktualität. Er hat das Stück „C(h)oeurs“ genannt, um damit „Chöre“ und „Herzen“ gleichzeitig zu benennen.
Alain Platels Theater handelt von großen Gefühlen, die jedoch nicht romantisch verbrämt, sondern sehr aktuell und realistisch den Zustand der Welt und die conditio humana vor Augen führen. Immer verfolgt der belgische Choreograf und Gründer des mittlerweile legendären Kollektivs Les ballets C. de la B. mit seinen Arbeiten ein gesellschaftsrelevantes Anliegen, immer ist der gelernte Heilpädagoge auf Seiten der Außenseiter, der Ausgegrenzten, derjenigen, die nicht der Norm entsprechen.
Das beginnt bei der Auswahl seiner TänzerInnen, die oft nicht dem gängigen ästhetischen Geschmack entsprechen, aber dafür Dinge tun können, die „normale“ TänzerInnen so eben nicht drauf haben. Etwa wenn ein Tänzer zu Beginn in angespannter, vorgebeugter Haltung auf der Bühne steht, und diese über die ersten beiden Musiknummern beibehält. Zu „Dies Irae“ aus dem Verdi-Requiem, das der Chor hinter dem transparenten Lamellenvorhang singt, steht er da, mutterseelenallein, im Büßerhemd, nur die Finger bewegen sich dort, wo normalerweise der Kopf zu sehen wäre. Im Vorspiel zum 1. Akt von Wagners „Lohengrin“ zieht er sich das Hemd hinauf und gibt den Blick auf seinen extrem angespannten Rücken frei. Meint man darin ein Gesicht zu erkennen? Das fabelhafte Lichtdesign von Carlo Bourguignon unterstützt jedenfalls die Täuschung. Oder der Pas de deux zu „Parigi, o cara“ aus La Traviata, der so gar nichts mit der romantischen Ästhetik am Hut hat, sondern von einer geradezu skurrilen Körperlichkeit ist.
Der Chor wird zur Massenbewegung, Soundfetzen der Occupy-Bewegung und der ägyptischen Revolution sind zu hören und dazwischen agieren die TänzerInnen, als AnführerInnen, als GegenspielerInnen, als Individuen, die aus der Masse hervorstechen. Bei ihrem ersten Auftritt tragen sie ihre Unterhosen wie Knebel im Mund. Zu den monumentalen Klängen des Pilgerchors aus „Tannhäuser“ werden sie sie, am ganzen Körper zitternd, mühselig anziehen.
Der Chor singt nicht nur, sondern fügt sich in einer neuen Rolle zum Corps de ballet zusammen, das stampft, rhythmisch klatscht, rennt, und rebellisch die Schuhe von sich schmeißt. Und dazwischen zwei Kinder, Hoffnungsträger, aber auch Manipulierte und Missbrauchte. Jede Szene wird zu einem lautlosen Schrei – der offene Mund ist ein immer wieder kehrendes Element.
Doch wonach streben diese vielen Menschen? Nach Individualität, nach Nationalität, nach Demokratie, nach Freiheit? Die jüngsten Entwicklungen der Weltgeschichte zeigen, dass es keine eindeutige Antwort gibt. Vielleicht, so könnte man Platels Versuch interpretieren, lautet sie auch für jeden Einzelnen anders. Zwischen den 14 Musikstücken – inklusive zweier historischer Aufnahmen – werden Texte von Margarite Duras über die Einzigartigkeit jedes Individuums rezitiert.
Wenn am Ende die Chormitglieder die rot gefärbten Handflächen gen Himmel strecken und dazu „Libera me“ singen, dann lässt das jedenfalls niemanden im Publikum kalt - und der "Platel-Effekt" greift wieder.
Im Frühjahr 2012 hat Gerard Mortier „C(h)oeurs“ als Intendant des Teatro Real in Madrid ermöglicht. Seither gab es nur wenige Aufführungen dieses Werkes mit an die 80 Sängerinnen der Madrider Oper, den zehn TänzerInnen von Les ballets C. de la B. und einem zirka 80-köpfigen Orchester – in St. Pölten glänzte das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter der Leitung von Marc Piollet.
Die Neo-Intendatin des Festspielhaus St. Pölten Brigitte Fürle hat es gewagt, diese Monsterproduktion einzukaufen und damit das Motto ihrer ersten Saison „Herz und Haltung“ besiegelt – mit wohl einer der bedeutendsten humanistisch-künstlerischen Manifestation unserer Zeit.
Alain Platel: „C(h)oeurs“ am 12. Oktober im Festspielhaus St. Pölten