Mit einer überarbeiteten Choreografie aus dem Jahr 2009 feierte die neue Ballettchefin des Linzer Landestheaters, Mei Hong Lin, ihren Einstand. „Schwanengesang“ basiert auf dem 1892 erschienen symbolistischen Roman „Bruges-la-morte“ von Georges Rodenbach und erzählt die Geschichte des Witwers Hugo, der seine früh verstorbene Frau nicht vergessen kann. Als er meint, eine neue Liebe gefunden zu haben, will er diese, Mariette, nach dem Vorbild der unvergessenen Marie ummodeln.
Die gebürtige Taiwanesin Mei Hong Lin, die zuletzt Ballettdirektorin in Darmstadt war, ist nicht die Erste, die sich des düsteren Stoffes annimmt. Die wohl bekannteste Bearbeitung des Themas haben Vater und Sohn Korngold (Julius, alias Paul Schott Libretto / Erich Wolfgang Musik) mit der Oper „Die tote Stadt“ geschaffen. Neben anderen Bearbeitungen hat sich auch Alfred Hitchcock der Besessenheit von einer Toten, die fälschlich für unverbrüchliche Liebe gehalten wird, angenommen. Mit James Stewart und Kim Novak hat er 1958 den Film „Vertigo – aus dem Reich der Toten“ gedreht.
Die tote Stadt als Symbol für das Innenleben. Unter grauen Schleiern bewegen sich undefinierbare Wesen, erst als sich die Schleier allmählich heben, werden die Menschen sichtbar, die sich später als die um eine Tote kreisenden Gedanken und Erinnerungen der Hauptfigur, Hugo, eklären lassen. Mei Hong Ling lässt die Geschichte in der Zeit ihrer Entstehung, verändert aber den Schwerpunkt, nicht Hugo kann die einst geliebte Frau nicht vergessen, sondern sie ist es, die in ihn nicht loslässt. Als „Zerfallene Marie“ (Julio Andrés Escudero) geistert sie durch die Stadt und kommentiert pantomimisch das Geschehen. Marie, die Verstorbene, wird von sieben Tänzerinnen dargestellt, wie auch mehrere Hugos auf der Bühne erscheinen. Da die Geschichte zwischen Wachen und Traum angesiedelt ist, haben sie nicht allzu viel zu tun. Mireia Gonzáles Fernández (wie viele der Ensemblemitglieder aus Darmstadt nach Linz übersiedelt) ist Mariette, die Frau, in die Hugo sich verliebt und die er zu einer neuen Marie formen möchte. Ganz wie im Roman wird er auch von Barbe (präzise und in einer eigenen Tanzsprache eindrucksvoll die ebenfalls frisch engagierte Nuria Gimenez Villarroya), seiner in ihn verliebten Haushälterin begleitet.
Mei Hong Lin gelingt es nicht nur zu Beginn der 80 Minuten schöne und überraschende Bilder zu zaubern, etwa mit dem geheimnisvollen Schrank, aus dem die Erinnerungen Hugos fallen oder dem Auftritt der Dämonen, die ebenso wie die Beginen (vor allem in Flandern übliche Gemeinschaften frommer Frauen, die jedoch kein Klostergelübde abgelegt haben. Noch heute kann man in Brügge oder Gent die Beginenhöfe besichtigen, deren einige von der UNESCO den Titel Weltkulturerbe erhalten haben) zwischen Tristesse, Bedrohlichkeit und fröhlicher Ironie tanzen. Weniger gelungen ist der Auftritt der weiblichen und männlichen Schwäne, die mit nacktem Oberkörper endlos ihre reichen weißen Tüllröcke wolkig lüpfen. Auch in ihrer Bewegungssprache bleibt die Choreografin in der Zeit der Geschichte und bedient sich der Elemente des Ausdruckstanzes. Ganz vertraut sie den expressiven Schritten und artistischen Hebungen jedoch nicht und ergänzt sie durch unartikuliertes Gebrüll und theatralisch gesprochenen Text.
Die Bühne (Thomas Gruber, der auch für die Kostüme, ganz im Stil der 20erJahre verantwortlich ist) stellt eine Art Insel im von Kanälen durchzogenen Brügge dar. Hinten darf man sich den Kanal, auf dem die Boote fahren vorstellen, vorne glitzert tatsächlich Wasser, in das Marie / Mariette und auch das vampirhafte Gespenst der Toten eintauchen müssen. Mit dem sich auch wunderbare Lichteffekte erzeugen lassen. Brügge, die tote Stadt, ist meist in düsterem, kalten Blau gehalten, lediglich in den wenigen fröhlichen Szenen (ein Fest der Beginen etwa) wird die Stadt, die den Seelenzustand Hugos wiederspiegelt, für kurze Zeit hell und warm. Marie lässt Hugo nicht los, Marietta macht sich über sein wahnhaftes Angedenken lustig und muss sterben. Die Stadt versinkt im Chaos und wird vom Meer verschlungen.
Während der Proben improvisiert. In einem Parallelprozess hat der deutsche Komponist Michael Erhard während der Probenarbeiten in Darmstadt die Musik für ein sechsköpfiges Ensemble (Klavier, Saxophon, Kontrabass, Cello, Klarinette, Schlagzeug), in Stil und Harmonik an die Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts angelehnt, geschaffen. Sie trägt wesentlich dazu bei, die Gefühlsausbrüche und –zustände Hugos zu transportieren und untermalt auch plastisch oft mit jazzigen Klangfarben die Auftritte des Ensembles. Vom Klavier (Keyboard) aus hat Nebojša Krulanovic die Gruppe geleitet.
Mei Hong Lin nennt ihre Choreografie „ein Tanzstück in 6 Bildern“, die jedoch keinen Handlungsablauf darstellen, sondern ineinander verschwimmen und sich mehr auf – ganz im Sinne der Symbolisten – die Seelenzustände der ProtagonistInnen konzentrieren. Nichts wird direkt ausgesprochen, jeglicher Naturalismus ist verpönt. Deshalb ist es anzuraten, die mehr poetischen als die Szenen erklärenden Beschreibungen der 6 Bilder im Programmheft vorher zu lesen. Denn wer weder den Roman noch Korngolds Oper kennt und sich an Hitchcocks Film nur schwach erinnert, irrt durch Brügge wie der besessene Hugo und ist der morbiden Tristesse bald überdrüssig.
„Schwanengesang“, Tanzstück von Mei Hong Lin, Musik von Michael Erhard, Premiere am 12., gesehen am 16. Oktober 2013, Musiktheater Linz.
Nächste Vorstellungen: 23., 25., 27. Oktober, 1. November 2013.