Die Tanzensembles von Osnabrück und Bielefeld erweckten Mary Wigmans Fassung von „Le Sacre du printemps“ zu neuem Leben. Der "Annäherung" an die 1957 uraufgeführte „Frühlingsweihe“ gingen zwei neue Arbeiten der Ballettchefs der beiden Häuser, Mauro de Candia und Gregor Zöllig, voraus. Die Premiere des dreiteiligen Abends am 9. November im Theater Osnabrück wurde zu einem überwältigenden Erfolg.
Die Gelegenheit, der Auferstehung eines verschwunden geglaubten Kunstwerks beizuwohnen, mag an und für sich schon ein überaus seltenes Ereignis sein. Noch herausragender wird dieses Ereignis jedoch, wenn es bei der Auferstehung – inhaltlich gesehen – um eine „Erwählte“ geht, die letztlich durch Tanz den Tod findet. Gerade dieser Tod aber evoziert eine weitere Gedankenebene, denn so wie die Wiederbelebung von Mary Wigmans 1957 uraufgeführter „Frühlingweihe“ die Auferstehung einer ganzes Epoche des Bühnentanzes symbolisiert, mag der Tod der Erwählten für das Versinken ebendieser Epoche stehen.
Was für ein Unterfangen! Patricia Stöckemann, Tanzdramaturgin des Theater Osnabrück, mobilisierte, unterstützt vom TANZFONDS.ERBE (einer Kulturstiftung des Bundes), die Tanzensembles von Osnabrück und Bielefeld, überzeugte deren Leiter, Mauro de Candia und Gregor Zöllig, von der Notwendigkeit des Unternehmens „Wigman-Sacre“ und stellte ein Arbeitsteam zusammen, das aus Henrietta Horn als verantwortliche Choreographin, Susan Barnett und Katharine Sehnert besteht. Dazu kamen mit Brigitta Herrmann und Emma Lewis Thomas Wigman-Tänzerinnen, die Teil der Uraufführung an der Berliner Städtischen Oper gewesen waren. Trotz der relativ guten Quellenlage, auf die man sich bei dieser Rekreation stützen konnte, war die „Annäherung“ an das letzte Werk der weltweit dominierenden Vertreterin der Epoche des Ausdruckstanzes mehr als riskant, galt es doch, die vorhandenen zweidimensionalen Einzelteile der Quellen in ein logisch sich aufbauendes dreidimensionales Kontinuum zu wandeln. Dieser künstlerischen Herausforderung fulminant gerecht geworden zu sein, ist das Verdienst von Henrietta Horn. Nunmehr in ein neues Jahrhundert herüber geholt, präsentiert sich Mary Wigmans Version von Strawinskys „Le Sacre du printemps“ als das Werk einer „Weisen“, die noch einmal die Kräfte jenes Bühnentanzes zusammenfasst, den sie selbst ganz wesentlich mitgestaltet hatte. Und die „Frühlingsweihe“ tut dies gleich in mehrfacher Hinsicht, denn sie bündelt beide Formen des Ausdruckstanzes, die Gruppenarbeit ebenso wie seine solistische Form im Tanz der Erwählten. Das Werk zeigt – freilich durch das Ritual überhöht – die Essenz dieses Stils: individuell Erlebtes wird mittels körperfunktionaler Technik „aus der Musik heraus“ entwickelt.
Spannend dabei wie die Jaques-Dalcroze-Abtrünnige den musikalisch-choreographischen Plan ihrer Sicht von „Sacre“ anlegt. Mary Wigman tut dies – übrigens ganz im Unterschied zu Nijinskys Original von 1913, der zuweilen tatsächlich im Sinne des Meisters „realisiert“ –, indem sie die Choreographie in einem übergeordneten Spannungsbogen über die Kleingliedrigkeit der musikalischen Anlage führt und so der Komposition den nötigen Freiraum lässt, ihre aberwitzigen Eskapaden zu schlagen. Das Osnabrücker Symphonieorchester spielt unter der Leitung von Daniel Inbal mit größtem Engagement.
Die Großräumigkeit des szenisch-musikalischen Plans entspricht dem choreographischen Raumkonzept, das auf einem schräg aufsteigenden Ritualplatz angesiedelt ist. Mit einfacher Raumführung der Gruppe, mit Geschlechterkontrasten, Blöcken und Körperarchitekturen arbeitend, wird die hierarchische Stammesstruktur streng eingehalten. Große, immer wieder auch gegeneinander geführte Kreise wechseln ab mit feierlich beleuchteten Diagonalformationen. Ruhe- und Haltepunkte markieren die Stationen der Ritualhandlung, die gegenüber dem Originallibretto leicht verändert wurde. In dem weiblich geführten Stamm übernimmt die „Sakralfigur“ selbstbewusst ihre Aufgabe, die sie für die Gesellschaft, deren Teil sie ist, leistet. Erst ihr Tod ermöglicht die alljährliche Erneuerung. Die Haltepunkte in ihrem Tanz geben dem Stamm Gelegenheit zur Anbetung und Verherrlichung.
Gerade dieser stücktragende Tanz der Erwählten – in Osnabrück getanzt von Hsiao-Ting Liao – aber wurde zur besonderen Herausforderung für das Arbeitsteam, hatte doch Mary Wigman seinerzeit die Interpretation dieser Rolle Dore Hoyer übertragen. Diese herausragende Vertreterin des Ausdruckstanzes hatte die Partie zwar selbst choreographiert und auch verkörpert, nicht aber aufgezeichnet. Einmal mehr stellte hier Henrietta Horn ihr künstlerisches Gespür unter Beweis, denn sie verstand es, aus überliefertem „Hoyer-Material“ ein in sich stimmiges Ganzes zu fügen.
Die Tänzer der beiden Häuser, Osnabrück und Bielefeld – der dreiteilige Abend, „Sacre“ tituliert, wird nun abwechselnd in beiden Städten gegeben – agieren beispielhaft, fast sendungsbewusst. Sie haben nicht nur die Kraft, sondern auch die Kantigkeit und Schwere, um Wigmans Körpersprache ausführen zu können. Sie bewähren sich erst recht in jenen beiden Stücken, die die beiden Hausherren zur Einstimmung in Wigmans „Sacre“ kreiert haben. In Mauro de Candias „Fiat Lux“ wird der Zuseher auf heraus geleuchteten Raumwegen durch Dunkelheit geführt. Gregor Zölligs Choreographie zu „Rauschen“, die vor allem auf den akustischen Sinn des Wortes verweist, lässt auch erkennen, dass der Begriff auch bewegungsmäßig gedeutet werden kann. Das Initiieren und Vorüberrauschen von Tanzbewegung endet bei ihm mit der Isolation einer Erwählten.
Die außerordentliche Qualität der Annäherung an die „Frühlingsweihe“, die die Wigmansche Sicht der Komposition Strawinskys an die Seite der größten szenischen Deutungen der Partitur stellt, wird es verhindern, dass sie, wie dies beim Original von 1957 der Fall war, wieder von der Tanzbühne verschwindet. Ivan Liska, Direktor des Bayerischen Staatsballetts, macht den Anfang: das Werk wird noch in dieser Spielzeit auf den Münchener Spielplan gesetzt.
„Sacre“ im Theater Osnabrück am 9. November 2013 (Premiere). Weitere Vorstellungen: 19., 27. November 2013, 5., 11., 14., 20., 29. Dezember 2013, 4., 25. Januar 2014. Theater Bielefeld: 17. (Premiere), 23. November 2013, 3. Dezember 2013, 5., 15. Januar 2014, 2., 27. Februar 2014, 11. März 2014.