Das lange Warten auf die erste Ballettpremiere dieser Saison hat sich gelohnt: William Forsythe, Harald Lander und die junge Choreografin Natalia Horecna garantieren einen genussvollen Abend höchster Tanzkunst. „The Second Detail“ von Forsythe und „Études“ von Lander, längst zu Klassikern des 20. Jahrhunderts gewachsen, bilden den zauberhaften Rahmen zur Uraufführung der Gedanken Horecnas über die Liebe zum Leben, die den Tod mit einschließt.
Fulminante Premiere. 13 TänzerInnen in hautengen zartgrauen Kostümen kehren dem Publikum den Rücken, an der Rampe gibt eine Tafel mit dem Wort „The“ Rätsel auf. Doch die Ästhetik William Forsythes, der sein Ballett „The Second Detail“ 1991 zum ersten Mal in Kanada gezeigt hat, ist bereits sichtbar. Das Thema der Exposition ist klar: das klassische Ballett mit all seinen Schwierigkeiten. Die Durchführung aber wehrt sich dagegen, schockiert, greift in den Bewegungskatalog ein, verändert ihn. Forsythe gibt dem alten Thema eine neue Sprache. Und diese, perfekt ausgeführt von den Mitgliedern des Wiener Staatsballetts, ist verständlich, erstaunlich und vergnüglich zugleich. Exakt bewegen sich Tänzerinnen und Tänzer (mit der am Ende auftretenden Frau im weißen Kleid sind es 14) zur nuancen- und temporeichen Musik von Forsythes langjährigem Mitarbeiter Thom Willems. Atemberaubende Solis und Duette, große Sprünge, schnelle Battements, schwungvolle Kombinationen von Schritten und Gesten, verrenkte, gekippte Körper, verschobene Hüften, kantig gewinkelte Ellenbogen, Ferse statt Spitze und Wechselschritt. Kaum kann das Auge folgen und doch welche Lust! Die schwindelerregende Lust an der Genauigkeit. Doch die ist eine andere Geschichte sie („The Vertiginous Thrill of Exactitude“) wird erst vier Jahre später von Forsythe erzählt.
In all der temporeichen Exaktheit taucht fast unbemerkt eine Frau in weißer Hülle (Gewand kann die Kreation von Issey Myake nicht wirklich genannt werden) auf. Sie taumelt und schlingert zwischen den Trikots (Yumiko Takeshima), ein Bild grotesker Anmut. Ein neues Bild des weißen Schwans? Wenn es so ist, dann überlebt er nicht. Die weiße Tänzerin fällt, bleibt liegen, das Ensemble verschwindet allmählich. Der Letzte kickt das „The“ nonchalant um. Die strengen Gesetze sind aufgehoben, das klassische Ballett ist befreit. 14 Namen der TänzerInnen sind aufzuzählen, die dieses Stück, Hommage an das klassische Ballett und zugleich dessen Auflösung, in virtuoser Präzision und unnachahmlicher Tanzfreude dargeboten haben. Ehre wem Ehre gebührt, auch wenn die Liste lang ist: Olga Esina, Alice Firenze, Nina Poláková, Rafaella Sant’Anna (Frau in Weiß), Reina Sawai, Rui Tamai, Prisca Zeisel – ein Damen-Ensemble aus einem Guss. Und ebenso die Herren: Davide Dato, Alexis Forabosco, Greig Matthews, Eno Peçi, Vladimir Shishov, Mihail Sosnovschi, Richard Szabó.
Klassisch romantisch. Mit der Aufhebung von Gesetzen hat der dänische Tänzer und Choreograf Harald Lander (1905–1971) nichts im Sinn. Im Gegenteil, er begibt sich in den Ballettsaal und erinnert sich. An das tägliche Training, auch an der Stange, an die Grundpositionen des Balletts, an Port de bras und Pirouette. Zugleich aber erinnert uns Lander auch an die Geschichte des klassischen Balletts, schwärmt von der Sylphide und seinem Vorgänger, dem dänischen Ballettmeister August Bournonville. Als musikalische Begleitung hat der in Estland geborene dänische Ballett-Komponist Knudåge Rüsager (1897–1974) Etüden des allen Klavierschülerinnen bekannten Wieners Carl Czerny orchestriert und auch bei dieser Musik gilt es, genau zu zählen, um nicht au dem Takt zu kommen. Immer schwieriger werden die „Übungen“ immer rasanter die Drehungen, immer raffinierter das Licht (Thomas Lund nach Harald Lander), mitunter sind nur Beine oder nur Arme zu sehen, Solos folgen auf Gruppenauftritte. Für Abwechslung sorgt die Idee Landers, die Ballerinen in schwarze und weiße Tütüs zu kleiden. Als Solistin macht Kiyoka Hashimoto gute Figur. Wobei auch ihre Partner, Denys Cherivichko (Sprung- und Drehkraft pur), Roman Lazik und Davide Dato (der obwohl auch im „Forsythe“ präsent für den verletzten Robert Gabdullin – im wahren Wortsinn – eingesprungen ist) bewundernd zu erwähnen sind. Wenn diese Études nicht perfekt und exakt getanzt werden, könnten sie schnell langweilig werden. Doch Ballettchef Manuel Legris und der dänische Ballettmeister Thomas Lund (Einstudierung) sind die Garanten einer perfekten Umsetzung dieses zu Recht ins Repertoire aufgenommenen Juwels. Zum Finale markieren zwei sich kreuzende Lichtbahnen die Wege der TänzerInnen, die in zügiger Abfolge, gefährlich knapp aneinander vorbei gleitend, die Bühne queren. Einfach zauberhaft. Wieder dürfen sich die Tänzerinnen und Tänzer unter tosendem Applaus verbeugen.
Philosophie mit Witz. „Études“ ist übrigens das einzige Stück, das (etwas laut von Peter Ernst Lassen dirigiert) mit Orchesterbegleitung getanzt wird. Kommt Willems’ Sound aus der elektronischen Künstlerwerkstatt, so bedient sich Horecna für „Contra Clockwise Witness (For Ole)“ so vieler unterschiedlicher Kompositionen, dass die Musiker ebenfalls frei haben. Nahtlos passt dieses Mittelstück in den gewählten Rahmen. Legris hat das Risiko gewagt, eine Uraufführung anzusetzen und der Choreografin freie Hand gelassen. Das Stück beruht auf einem komplizierten Gedankengang und ist dennoch leicht verständlich. Es geht um die Angst vor dem Tod, die abgebaut werden soll, damit die Freude am Leben sich entwickeln kann. Ein vielfältiges Personal – ein lebensmüder Mann, seine Seele samt spirituellem Beistand, schwarze und weiße Engel, eine Braut, ein versoffener Bräutigam, eine unglückliche Martha … – bevölkert die Bühne, doch das dunkle Märchen endet im Licht: Der Lebensmüde bekommt eine zweite Chance. Er soll leben und das Leben genießen. Horecna lockert ihre Choreografie durch vier humorvoll fetzige Zwischenspiele auf, in denen sogar der Selbstmord der Dame Martha zur komischen Nummer wird.
Durch die unterschiedlichen Musikteile ( von Max Richter und George Crumb bis zu The Tiger Lillies) gewinnt die Choreografie an Dynamik. Witzig sind auch die Engelskostüme von Christiane Devos, stimmungsvoll das Licht von Mario Ilsanker. Auch hier darf ein Ersatzmann seine tänzerischen Fähigkeiten zeigen: Andrey Kaydanovskiy ist „die Seele“, die der lädierte Kyrill Kourlaev nur vom Zuschauerraum aus betrachten durfte. Trevor Hayden (auf seinem weißen Ross, mein Lieblingsbefehlshaber der Nussknacker-Armee) übernahm einen der Engel. Die Brücke zum Rahmen bildet Horecnas Erfahrung als Tänzerin, die sie bei John Neumeier und Jiri Kylian gemacht hat. Auch hier wird der klassische Bewegungskatalog benutzt, um ihn beiseite zu werfen und dennoch nicht zu vergessen. Die junge Choreografin sieht den Körper der TänzerInnen als Instrument, um zur Seele (zuerst zu der, der Tanzenden und natürlich auch zu der, der Zuschauenden) vorzudringen. Die Reaktion auf der Bühne und im Saal zeigt, dass es gelungen ist. Das Dilemma der Namensliste ist hier noch größer: an die 20 TänzerInnen beschäftigt Horecna. Sie alle haben die Herausforderung angenommen und trotz des teilweise düsteren Themas und reichlichen Nebels auch an diesem extravagantem Stück ihre Freude getanzt. Deshalb sei auch erwähnt dass ein Großteil der Tänzer und Tänzerinnen an diesem Abend zwei Auftritte hat, wobei schon einer (sowohl was die Proben als auch die Performance betrifft) ausfüllend genug wäre. Unter Manuel Legris hat das Wiener Staatsballett wahrlich Rang und Namen erlangt. Oder richtiger: erarbeitet.
Ballett-Hommage. Forsythe / Horecna / Lander. Premiere (Uraufführung) am 15. Dezember 2013, Wiener Staatsoper.
Die nächsten Vorstellungen finden am 8., 11. und 14. Februar 2014 statt.