Unsichtbarer Tanz. Die MusikerInnen sehen die Partitur nicht, das Publikum sieht das Quartett nicht, die Spielerinnen sehen das Publikum nicht, können auch ihre Instrumente nur fühlen, die anderen nur hören. Der Gesichtssinn ist ausgeschaltet, der Saal so finster, dass auch die Hand vor den Augen nicht gesehen wird. Wir sind blind, verlassen uns ganz auf den Gehörsinn und erleben einen der Höhepunkte des Osterfestivals Tirol 2014. Georg Friedrich Haas: Konzert im Dunkeln, vom Kairos Quartett in der Saline von Hall i. T. gespielt. Ein Erlebnis der besonderen Art.
Tanz international. Eingerahmt, geradezu umklammert wird das auf Alte und Neue Musik ausgerichtete 26. Osterfestival traditionsgemäß vom Tanz. Eröffnet mit „Cadenza“, Die Stadt im Klavier V mit der Pianistin Aki Takase und der Tänzerin Yui Kawaguchi, abgeschlossen mit dem aufgefrischten immer noch wirksamen rasanten Stück von Vim Vandekeybus und seiner Compagnie Ultima Vez „What the body does not remember“ (uraufgeführt 1987), bildeten zwei unterschiedliche Stücke den tänzerischen Mittelteil: Oliver Dubois brachte seine „Elegie“ nach Innsbruck und Boris Charmatz schockierte mich mit „Enfant“.
Zuerst das Außergewöhnliche, Beeindruckende: Für das Ballet National de Marseille hat der Choreograf und Tänzer Olivier Dubois ein verschlüsseltes Stück, inspiriert von Rainer Maria Rilkes „Duineser Elegien“ geschaffen.
WER, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
So rätselhaft fängt die erste Elegie an und so rätselhaft setzt Rilke seinen bedeutungsschwangeren Kosmos fort. Rätselhaft bleibt auch Dubois’ knappe 60 Minuten dauerndes Stück. Der gern als „enfant terrible“ apostrophierte Choreograf arbeitet mit starken Bildern in einer Hell-Dunkel-Technik. Aus einer undefinierbaren formbaren und sich selbst formenden Masse löst sich allmählich ein menschliche Körper, selbststrahlend wie in einem Bild von Andrea Mantegna. Der nackte Leib wird herumgeworfen, erhebt sich immer wieder, formt aus dem dunklen Schlamm Berge und Türme, die er ersteigt, Höhlen und Architekturen in die er sich verkriecht. Die bewegte, atmende Skulptur ist aus schwarz verhüllten menschlichen Körpern (14 Tänzer und Tänzerinnen) geformt, die sich hin und wieder auch in ihrer wahren Gestalt zeigen.
Ein jeder Engel ist schrecklich.
„Elegie“ besteht aus zwei Teilen. Im ersten ist der Mensch, einem vom Kreuz gestiegenen Christus gleich, männlich, im zweiten agiert eine Frau, ebenso fast nackt und leuchtend, aber weniger kämpferisch, mit einer weicheren Variation des Bewegungsablaufs. Ob die schwarzen Gestalten, die undefinierbare Masse im Untergrund, siegen, oder der Mensch (die Menschin) endlich einen rettenden Engel findet, wird nicht klar. Doch Dubois’ macht klar, dass der Mensch nicht aufgeben darf, sich immer wieder erheben muss, Widerstand leisten, damit er Mensch bleibt.
François Caffenne hat Richard Wagners Klavierstück „Elegie in As-Dur“ mit Gewitterdonner zu einem auf- und abschwellenden Crescendo arrangiert. Dubois’ präzise Choreografie der dunklen, symbolträchtigen Bilder, die während des gesamten Stückes hinter einer Nebelwand verschwimmen, wird das Gedächtnis noch lange beschäftigen.
Schnell vergessen möchte ich Boris Charmatzs Versuch, ein Stück mit kleinen Kindern zu kreieren. Quälend und provokant zeigt „Enfant“ den Menschen als seelenloses Wesen, ausgeliefert und wehrlos. Hilflos baumeln Menschen wie Puppen an einem Kran, werden hoch gehoben, gebeutelt und wieder fallen gelassen. Diese armen Kreaturen werden selbst zu seelenlosen Maschinen, bedienen sich schlafender Kinder (die Kinder sind lebende kleine Darsteller, die nicht wissen wozu sie sich hergeben), schleppen sie umher, ziehen sie über die Bühne, schleudern sie im Kreis, werfen die kleinen Körper unter sich. Gegenwehr gibt es keine, den Kindern wurde befohlen, die Augen geschlossen zu halten.
Missbrauch in doppeltem Sinn, gezeigt im Spiel, getan auf der Bühne. Ein Dudelsackspieler tritt auf, addiert mit penetrantem Diskant zur optischen Qual auch die akustische. Davon erwachen auch die Kinder, manche versuchen zu fliehen und werden wieder eingefangen. Der Rattenfänger hat keine Chance, er hängt schließlich selbst am Kran, bläst bis zum letzten Atemzug. Die zwölf Kinder rächen sich, machen die Erwachsenen zum Material, arrangieren die willenlosen Körper nach ihren Vorstellungen. Jetzt sind die Kleinen grausame Akteure, die Großen müssen es ertragen. Charmatz benutzt die Körper als leblose Materie und nimmt den Menschen – auch PerformerInnen auf der Bühne bleiben Menschen, in welcher Rolle auch immer sie agieren – damit das Menschsein, würdigt sie zum Spielball herab. Eine Provokation, inhuman, beklemmend und nahezu unerträglich.
Auch Vandekeybus setzt die Körper ein, stellt sie in Extremsituationen, in denen sie in der Sekunde reagieren müssen. Doch sie haben die Wahl: Sich stellen oder ausweichen. Die neun TänzerInnen sind ständig in Bewegung, nutzen die Kraft des Augenblicks, versetzen das Publikum mit Witz und Akrobatik in Spannung, reagieren mit der Kraft der Muskeln und dem Blitz des Gedankens und bleiben ganz Mensch.
26. Osterfestival Tirol, 4. bis 20. April 2014, Innsbruck und Hall in Tirol.