Gipfeltreffen auf Kampnagel. Nach vier Festivaltagen, nach 37 restlos ausverkauften Vorstellungen, den Auftritten von 130 Künstlern und einem umfangreichen Rahmenprogramm mit Vorträgen, Installationen und Workshops machte sich am Sonntagnachmittag bei der Tanzplattform Deutschland in der Hamburger Kampnagelfabrik Erschöpfung breit.
Augenringe, müde Gesichter im Foyer. Da holten einige schon mal ihre Taschen aus der Garderobe, Glieder wurden nach dem langen Sitzen gereckt, Füße vertreten und Adressen getauscht. Abreise in viele Richtungen. Und dabei war an diesem Nachmittag doch noch sehr Spannendes zu sehen: ein Solo von Tino Sehgal zum Beispiel. Inzwischen vor allem mit Arbeiten aus dem Bereich der bildenden Kunst vertreten, so bei der documenta und in der Londoner Tate Modern, hat Sehgal, der früher Ensemblemitglied u.a. bei Jérôme Bel und Xavier Le Roy war, das Stück vor über zehn Jahren selbst getanzt. In Hamburg wurde „Ohne Titel“ nun (wie schon 2013 in Berlin) nacheinander von Andrew Hardwidge, Frank Willens und Boris Charmatz interpretiert. Eine subtile Arbeit, deren Struktur sich eigentlich erst in diesem direkten Nebeneinander richtig erschließt. Der nackte Körper wird thematisiert, aber nicht ausgestellt; frei vom Performer zu gestaltene Sequenzen wechseln mit klar choreographierten Abschnitten. Es ist eine Reise durch die Geschichte des Tanzes, komponiert aus zahlreichen Zitaten und Verweisen. Andrew Hardwidges Solo steckt voller Ironie, der Beitrag von Boris Charmatz besticht durch Eleganz und Genauigkeit. Vor allem aber ist es Frank Willens, der begeistert und überzeugt. Grandios, welch beeindruckende Dynamik er seinem Part verleiht. Und auch die leisen, feinen Momente versteht er aufzunehmen.
Die Tanzplattform Deutschland wird seit 1994 als Kooperation von zehn Tanzveranstaltern in Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut und dem Internationalen Theaterinstitut organisiert und findet alle zwei Jahre in jeweils einem der Partner-Häuser statt. So groß und so sehr als Publikumsfestival konzipiert wie in diesem Jahr war die Plattform jedoch noch nie. Eine sechsköpfige Jury wählte 12 Produktionen aus, die als herausragende Beispiele für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland gezeigt wurden. Dabei betonten Sophie Becker, Esther Boldt, Bettina Masuch, Caroline Spellenberg, Melanie Zimmermann und Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard, dass viele neue Arbeiten ein künstlerisch sehr hohes Niveau erreicht hätten. Die guten Ausbildungsbedingungen seien ein Grund hierfür, der Zusammenschluss und das dichte Netz an Tanz produzierenden Häusern ein weiterer. Und tatsächlich bot das Festival ein spannendes, vielschichtiges Programm. Das künstlerische Niveau indes erwies sich als durchaus schwankend.
Oder muss man in VA Wölfls „Chor(e)ographie/Journalismus: Kurze Stücke“ tatsächlich ein Beispiel für die besondere Qualität des zeitgenössischen Tanzes sehen? Kann man, soll man? Amelie Deuflhard erläuterte vor Beginn der Aufführung, dass die Hamburger Version eine neue Fassung des Stückes sei, weil VA Wölfl und seine Gruppe Neuer Tanz gemeinhin 3 Tage Vorbereitungszeit vor Ort benötigten, hier aber nur 2 Tage zur Verfügung gestanden hätten. Wir bekämen also „short pieces“ der „short pieces“ zu sehen. Und wie sahen diese aus? Frauen und Männer in glänzenden, glitzernden Kleidern und Anzügen. Hochhackige Schuhe und coole Cowboyhüte. Eine grell hell beleuchtete Bühne, auf der sich eine Tänzerin minimalistisch und sehr langsam bewegt. Mal hört man leise aus dem Hintergrund klassische Klänge, dann wieder rauscht das schmerzende Gebrüll von Fußballfans durch den Raum. Die weißen Wände werden zu Projektionsflächen für die verzerrten Aufnahmen von Zuschauermengen, da fühlt man sich manchmal wie in einem 3-D-Film, irgendwie schwummert alles vor den Augen. Später nimmt jeder Tänzer eine Gitarre zur Hand, laut wird es, die Verstärker tun ihr Bestes. Ähnlich wie bei Sehdal, der seinen Performern die Möglichkeit entzieht, den Beifall entgegenzunehmen, fallen im Stück von Neuer Tanz klassische Aufführungskomponenten weg. Aber das ist bei dieser Gruppe ja schon immer so gewesen. Letztlich entscheidet hier jeder Zuschauer selbst, wie lange die Vorstellung für ihn dauert. Geht er beim ersten Öffnen der Türen? Wartet er lieber ab, ob die Tänzer nochmals auftreten? Passiert noch etwas? Dieser Ablauf wiederholt sich mehrfach. Und läuft seltsam ins Leere. Die Geste der Provokation bleibt bloße Attitüde.
Wahrscheinlich haben jene Zuschauer es am besten gemacht, die den Saal mit den „Kurzen Stücken“ als erste verlassen haben. Denn bei der Tanzplattform musste man sich eigentlich immer beeilen. Der Terminplan war eng und voll gepackt. Manchmal hätte man sich da mehr Gelegenheit zum Reflektieren und Luft holen gewünscht. Oder vielleicht einfach mal für einen Kaffee zwischendurch. Da hieß es dann, sich immer wieder neu einzulassen, aufmerksam zu bleiben. Und natürlich bot es auch eine großartige, ungewohnte Perspektive, wenn man von Isabelle Schads expressionistisch anmutendem Solo zu Kafkas „Der Bau“ weiterrannte zu den barocken Tanzpartituren von Sebastian Matthias’„Danserye“, um danach dann auch noch den opulenten Musikrausch in Meg Stuarts „Built To Last“ bewundern zu dürfen.
Vielfach wurde bei dieser Tanzplattform die nicht ganz neue Frage diskutiert, inwieweit der Sichtungsauftrag der Jury auch Stadt- und Staatstheater einschließen solle. Eine wichtige Frage, ein wichtiges Thema, denn mittlerweile arbeiten viele Künstler der freien Szene zumindest temporär an städtischen Häusern, es gibt zahlreiche Kooperationen. Meg Stuarts „Built To Last“ zum Beispiel entstand in Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen, Sebastian Matthias’ „Dansery“ wurde vom Theater Freiburg koproduziert. Doch, wie Jurorin Sophie Becker erklärte, sucht man da noch nach Lösungen. Gilt es, das bisherige Profil gegen diese Entwicklung zu verteidigen? Oder wäre es sinnvoller, wirklich die ganze Bandbreite des Tanzes in Deutschland zu zeigen, der Problematik einer ästhetischen Zersplitterung wohl bewusst? Die Auseinandersetzung um das Format des Festivals wird weitergehen. Nicht erst 2016, wenn die nächste Tanzplattform stattfindet. Im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main.
Tanzplattform 2014 von 27. Februar bis 2. März 2014 auf Kampnagel Hamburg
mit folgenden Produktionen:
Antonia Baehr: Abecedarium Bestiarium – Affinitäten in Tiermetaphern
Laurent Chétouane: 15 Variationen über das Offene
William Forsythe/The Forsythe Company: Sider
Raimund Hoghe: Cantatas
Sebastian Matthias: Danserye
Isabelle Schad und Laurent Goldring: Der Bau
Tino Sehgal: (Ohne Titel) (2000)
Richard Siegal: Black Swan
Zufit Simon: I Like To Move It
Meg Stuart: Built To Last
Swoosh Lieu: The Factory – Eine Besetzungsprobe
VA Wölfl/Neuer Tanz: Chor(e)ographie/Journalismus: Kurze Stücke