Wie viele Blautöne gibt es eigentlich? Bühnen- und Kostümbildnerin Luisa Spinatelli muss die meisten von ihnen kennen und hat sie nun zu einem kühl-eleganten, harmonischen Ganzen vereint. Zum 50. Jahrestag der Nurejew-Choreografie von „Schwanensee" an der Wiener Staatsoper, erfuhr das Ballett der Ballette in der neuen Ausstattung eine glanzvolle Wiederaufnahme – mit Olga Esina, Vladimir Shishov und dem Corps de ballet in den Hauptrollen.
Der See ist immer präsent, schließlich hat sich Luisa Spinatelli auch vom Bayernkönig Ludwig II und dessen Neuschwanstein inspirieren lassen. Auf einem Bühnenprospekt, vor dem die Freunde von Prinz Siegfried ihre Aufwartung zu seinem Geburtstag machen, thront das Schloss über dem See. Aber auch die Kostüme, die verschiedene Blautöne mit zart-grünen Akzenten vereinen, spiegeln das Thema wider. (Einen Kontrast dazu bildet nur die rotsamtene Tunika des Erziehers des Prinzen). Die Herausforderung diesen blauen Traum zu beleuchten hat Marion Hewlett kongenial gemeistert.
Die ruhigen Farbkompositionen und weich fließenden Stoffe stehen ganz im Dienste der Bewegung, und bereits der erste Walzer wird zu einem besonderen, tänzerischen Augenschmaus. Damit fordert das Corps des Wiener Staatsballetts mit Nachdruck seinen Anspruch auf die Hauptrolle in diesem Ballett ein - mit viel Schwung und äußerster Präzision. In diesem Tableau machen Kyoka Hashimoto, Greig Matthews, Masayu Kimoto und – besonders animiert – Alice Firenze als GefährtInnen des Prinzen beste Figur. Das Corps de ballet wird seine Perfektion auch in den „weißen Akten" beibehalten, in denen die edlen Tellertütüs der Tänzerinnen wie Lichtreflexionen auf dem Wasser glitzern.
Rudolf Nurejew hat in seiner Version des „Schwanensee" (nach der Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow) den Prinzen in den Mittelpunkt gestellt. Von dessen Warte aus entfaltet sich das Märchen der verwunschenen Prinzessin Odile und des Zauberers Rotbart, der in einer Täuschung mit seiner Tochter Odette den Prinzen zum Treuebruch verleitet und Odile für immer in seiner Macht behalten wird. Der Schwan wird hier zur Verkörperung des Traums von der absoluten Liebe. Eine unerfüllbare Sehnsucht, für die Siegfried von Rotbart mit dem Tod bestraft (oder, je nach Lesart, belohnt) wird. Vladimir Shishov zeigt sich bei der Premiere in seiner Bestform, und kann doch nicht vollends überzeugen. Immer wieder wird seine Rollengestaltung von tänzerischen Schwächen überschattet.
Mit Olga Esina hat das Wiener Staatsballett hingegen eine ideale Tänzerin für die Doppelrolle der Odette/Odile. Zerbrechlich und vertrauensvoll als weiße Schwänin, die ihren Retter findet; verführerisch und zerstörerisch als schwarzes Gegenstück, das die romantischen Gefühle des Prinzen verhöhnt. Keinen Moment ist diese Ballerina unsicher. Als Odette ist sie im zweiten Akt ein zitternd erschrockener Vogel, der sich erst nach und nach von Siegfried einfangen lässt. Dann wird sie zur verwunschenen Prinzessin mit weich schmelzenden Bewegungen. Als Odile gibt Olga Esina das Kommando nie aus der Hand: Ihre Balancen sind immer sicher gehalten, ihre Fouettés dreht sie mit temperamentvollem Elan. Trotz einer Verletzung hat sie auch den letzten Akt mit einfühlsamer Rollengestaltung als tief enttäuschte, aber verzeihende Geliebte getanzt.
Obwohl Olga Esina den Charakter der Odette/Odile in allen Facetten glaubhaft macht, nimmt sie der Doppelrolle den Nimbus der Romantik. Sie gibt ihre Distanz nie gänzlich auf und bleibt auch in den erotischsten Momenten ihres Auftritts cool reserviert. Und so verleiht Esina der Rolle einen neuen, interessanten Twist. Hier agiert eine moderne Tänzerin, die eine Märchenfigur zwar durchaus verkörpern kann, sich aber nicht von ihr vereinnahmen lässt.
Auf den Seitenvorhängen bleibt der See auch im dritten Akt, der Geburtstagsfeier von Siegfried im Schloss, sichtbar, quasi als Echo für des Prinzen Sehnsucht. Odiles prächtiges, schwarzes Tütü ist das exakte Gegenstück zu Odettes weißem Schwanengewand. Während die Blau- und Grüntöne in den Kostümen des Hofstaates (mit prächtigen Kopfbedeckungen für die Frauen) erhalten bleiben, hat Spinatelli die Edelfräulein, die sich als potenzielle Ehefrauen vorstellen, in zartes Gelb gekleidet. Die Kostüme für die Volkstänze hat sie an die jeweilige Tracht angelehnt. Bei diesen sind Alice Firenze und Mihail Sosnovschi als besonders zündendes Solistenpaar im ungarischen Tanz aufgefallen.
Einziger Schwachpunkt in dieser gelungenen Ausstattung ist das Kostüm von Rotbart, ein Trikot mit überlangen Flügeln. Mit heftigen Armbewegungen versucht Rotbart seiner Autorität Ausdruck zu verleihen, was sich bald zu einer hektischem Wacheln steigert. Nur der schwere Mantel im dritten Akt verleiht Eno Peco das Gewicht, das er für diese Rolle durchwegs brauchen würde.
Ballettchef Manuel Legris und seine Probenleiter Alice Necsea, Lukas Gaudernak und Jean Christophe Lesage haben diese Neuaufnahme großartig einstudiert, und das größte Lob gilt, wie bereits erwähnt, dem Corps (inklusive der solistischen Rollen). Nicht nur äußerst genau, sondern auch höchst musikalisch rekreieren die Tänzerinnen mit ihren Reihen, Kreisen und Spiralen die harmonische Welt der klassischen Symmetrie.
Alexander Ingram gab sein Debüt an der Wiener Staatsoper und dirigierte das Orchester mit Emphase. Nach anfänglich (zu) lauten Tönen entfaltete sich Tschaikowskis unsterblicher Melodienreichtum voller Poesie.
Wien hat mit dieser „Schwanensee"-Inszenierung aus dem Jahr 1964 ein einzigartiges Juwel im Repertoire. Das Publikum wusste es zu schätzen, dass es nun mit einer neuen (und tourneetauglichen) Ausstattung aufgefrischt wurde und beschloss den Abend mit frenetischem Applaus.
Wiener Staatsballett: "Schwanensee", Wiederaufnahme am 16. März 2014 in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 18., 20., 21. 28. März, 6., 13. und 26. April 2014. Aufgrund der Verletzung von Olga Esina bei der Premiere werden auch die Vorstellungen am 18. und 21. März von Liudmila Konovalova getanzt.