Auch bei der 44. Vorstellung, mehr als fünf Jahre nach der Premiere, ist das Publikum in der Sächsischen Staatsoper (bekannter als Semperoper) entzückt vom Schauspiel am „Schwanensee“. Die Gäste bleiben paralysiert in den Sitzen kleben, klatschen jubelnd im Takt. Der Ballerina, Svetlana Gileva, wird ein Strauß roter Rosen überreicht, der Dirigent, David Coleman, bedankt sich winkend für die immer von neuem aufbrandenden Bravorufe.
Ballettchef Aaron S. Watkin und sein Team beweisen mit der veränderten Fassung des Balletts von Marius Petipa / Lew Iwanow zur Musik von P. I. Tschaikowsky, dass man das Märchen auch ganz anders erzählen kann, auch die Dramaturgie, sogar das gestrenge klassische Vokabular behutsam verändern darf, ohne die Basis dieses Klassikers der Ballettliteratur oder den märchenhaften Zauber zu zerstören. Gemeinsam mit der Tanzhistorikerin Francine Watson Coleman hat Choreograf Watkin auf jene Quellen zurückgegriffen, die weniger die Ballerina und den Solisten in den Vordergrund stellen (auch wenn auf die 32 Fouettés der Odile nicht verzichtet wird), jedoch Solovariationen, Auftritte der Gruppen und des gesamten (durch Schülerinnen der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden ergänzten) Corps de ballet wunderbar ineinander übergehen lassen, wodurch die Handlung komprimierter, dynamischer und verständlicher wird. Zwei Akte, zweieinhalb Stunden, passend auch für die Familienvorstellung. Rudolf Nurejew Wiener Fassungen dauert gute drei Stunden. Ein Schelm, wer da an Streichbares denkt.
Bühnenbildner Arne Walther hat das Schloss, in dem Prinz Siegfried seine Volljährigkeit feiern soll und später von Rotbart und seiner Odile im schwarzen Tütü aufs Glatteis geführt wird, nach Sachsen verlegt. Das nach oben hin lichte, schon etwas verfallene mittelalterliche Gemäuer steht mitten in einer friedlichen Landschaft. Wie in den Bildern der Gotik, ist sie im Hintergrund stets vorhanden, verbindet das Gestern mit dem Heute.
Tanzen auf dem Wasser. Zur Magie dieser Choreografie tragen auch die Kostüme, das ausgeklügelte Lichtdesign (Licht- und Schatteninseln lassen die Schwäne wie auf den sich kräuselnden Wellen des Sees tanzen) und die gelungenen Projektionen bei. Beeindruckend fliegen die Schwäne dem See entgegen, nicht unsichtbar im Rücken des Publikums, sondern sichtbar, für Siegfried, Freund Benno und alle ZuschauerInnen. Allmählich kommen sie näher, breiten ihre Flügel aus, strecken die Hälse, lassen sich im Mondlicht majestätisch und gemessen auf dem Wasser nieder. Die Jünglinge spannen ihre Bogen, da berührt sie ein Zauber, die Armbrust fällt ihnen aus der Hand – dem See entschwebt eine liebliche Maid.
Noch so einen magischen Augenblick beschert diese Choreografie, wenn im ersten Akt ein Zeitfenster aufgeht und Odette, nahezu unkenntlich wie alle anderen Personen (Mutter, Großmutter, Rotbart) in graue Umhänge gehüllt, dem Prinzen und seinem Freund erzählt, wie sie und ihre Freundinnen zu Schwänen geworden sind. Lang, lang ist’s her.
„Mumming /Mummenschanz“ nennt sich diese theatralische Tradition, die vor allem in England, Schottland und Irland zu Hause war und im privaten Kreis oder auf öffentlichen Plätzen gezeigt worden ist. Bei Watkin dauert dieses Mumming nur einige kurze Minuten und doch fühlt man sich in einer anderen Welt. Dort herrscht die Großmutter von Odette als Gegenpart zu Baron Rotbart, dessen Fluch sie mildern aber nicht aufheben kann. Von dieser Vorgeschichte ausgehend hat Watkin auch ein neues Ende zu bieten. Keine Hochzeit auf Erden, aber auch kein Tod im Wasser. Tapfer kämpft Siegfried gegen Rotbart und sein Gefolge, die schwarzen Schwäne, während Odiles Freundinnen sie drängen, aufzugeben. In letzter Minute steigt die Großmutter den Hügel herab an die Gestade des Sees und weist Rotbart in die Schranken. Er begreift, die Liebe ist stärker als der Tod. Im Märchen siegt immer das Gute.
Weg mit dem Formalismus. Die hervorragende Form des Dresdner Ensembles konnte man bereits bei seinem Gastspiel in St. Pölten im Herbst 2014 mit einem perfekt präsentierten Forsyth-Programm feststellen. Doch die Tänzerinnen und Tänzer der Semperoper sind keine Forsythe-Compagnie, wollen sich weder als zeitgenössisches Tanzensemble noch als klassische Truppe präsentieren. Ballettchef Watkin, der das Ensemble seit 2006 leitet und mit seinen originell adaptierten Handlungsballetten (außer "Schwanensee" auch „Dornröschen“, „La Bayadère“ und zuletzt „Der Nussknacker“) nicht nur die großen sondern auch die kleinen Ballettfreundinnen gewonnen hat, will seine Compagnie nicht festlegen und einengen. Dem allgemeinen Vorwurf, der formalistischen, strikten, oft mechanisch perfekt ausgeführten Regeln des klassischen Balletts, begegnet er in seinem “Schwanensee“ mit fließenden, raumgreifenden Bewegungen und einem geöffneten Formenkatalog, auch wenn die klassischen Schrittfolgen erhalten bleiben. Watkin, der sämtliche Tanzstile von Bournonville über Vaganova bis Balanchine studiert und getanzt hat, will keine Marionetten auf der Bühne sehen, sondern Individuen, die sich selbst Gedanken zu ihrem Part machen, ihre Eigenheiten nicht hinter Technik verstecken, das klassische Vokabular frei benutzen. Die TänzerInnen, sagt Watkin im Interview, sind damit ebenso zufrieden wie das Publikum.
Ein Aperçu zum Schluss: In der Premiere am 21. November 2009 sprang der Erste Solotänzer des Wiener Staatsballetts Vladimir Shishov für den erkrankten Raphael Coumes-Marquet als Siegfried ein. Die Kritiker rühmten seine Interpretation als „traumhaft sicher“ und sahen „einen offensichtlich idealen Partner. Die Hebungen der Partnerin, schwarz oder weiß, in unwahrscheinliche Höhen" wurden als "von besonderem Zauber“ bewundert.
„Schwanensee“, Ballett in 2 Akten. Handlung von Aaron S. Watkin und Francine Watson Coleman nach den originalen Quellen. Mise en scène Francine Watson Coleman, Kostüme Erik Västhed, Bühne Arne Walther, Licht Wieland Müller-Haslinger, Projektionen Bastian Trieb, Dramaturgie Michaela Angelopoulos. Gesehen am 7. März 2015, Semperoper Dresden.