„Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ enstand 1999 als Auftragswerk der damaligen Kulturhauptstadt Weimar an den spanischen Choreografen Nacho Duato und seine Compañía Nacional de Danza. Nun hat Duato als Intendant des Staatsballetts Berlin dieses Werk, dessen Choreografie und Bühnenbild mit dem Prix Benois de la danse ausgezeichnet wurden, wieder aufgenommen.
Es ist – nach "Dornröschen" – die zweite Arbeit, die der Neo-Intendant mit den Berliner TänzerInnen einstudiert hat. Mit drei weiteren Stücken im Rahmen von mehrteiligen Programmen – eines davon eine Uraufführung im Mai – wird Duato der bisher weitgehend klassisch orientierten Compagnie in dieser ersten Saison kräftig seinen Stempel aufdrücken.
Der Tänzer und ehemalige Hauschoreograf beim Nederlands Dans Theatre leitete von 1990 bis 2010 die Compañía Nacional de Danza, mit der er seine Choreografien weithin bekannt machte. Sein moderner Tanzstil ist stark von seinem Mentor Jiri Kylián beeinflusst, seine choreografischen Ideen sind zum Großteil von der Musik inspiriert. Die Erfolgsgeschichte, die er 20 Jahre lang mit seiner spanischen Compagnie schrieb, nahm ein jähes Ende, als sein Vertrag vom Kulturministerium nicht mehr verlängert wurde. Vom Besitzer und Direktor Vladmir Kekhman wurde Duato als Hauschoreograf ans Mikhailovsky Theatre in St. Petersburg berufen, wo er auch Erfahrung mit der traditionellen, klassischen Ballettwelt macht. (Über seine Zeit in St. Petersburg hat ARTE im Februar dieses Jahres eine Dokumentation ausgestrahlt.) Dort kreierte er auf Kekhmans „Bestellung“ eine neue Version von „Dornröschen“. Und damit war Nacho Duato nun auch im Spitzentanz erprobt und für das Amt des Intendanten des Berliner Staatsballetts gerüstet.
Keinen Spitzentanz gibt es beim abendfüllende Ballett „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“), dafür aber eine Szenenabfolge zu unterschiedlichen Musikstücken von Johann Sebastian Bach: Sonaten- und Konzertsätze, Auszüge aus dem „Musikalischen Opfer“, Kantaten und Chorwerke. Eine Klammer bilden die Goldberg-Variationen in der legendären Fassung von Glenn Gould zu Anfang und Ende des zweiteiligen Abends.
Auch wenn sich mit der Figur des Komponisten (Michael Banzhaf) und des Todes (der stürmisch gefeierte Berliner Publikumsliebling Polina Semionova) zwei Solorollen als roter Faden durch das Ballett ziehen, so ist aus der Abfolge von Duos, Trios und Ensemble keine Story abzuleiten. Der Komponist mit barocker Perücke spielt Cello, das von einer Tänzerin verkörpert wird und dirigiert das Orchester zum jauchzenden Chor „Zerreisset, zersprenget, zertrümmert die Gruft“. Dann wieder werden die Geigenbögen als Degen im Fechtkampf eingesetzt, zu einer Polonaise gibt es ein humoristisches Duett zweier Männer im Tütü-ähnlichen Outfit. So unterschiedlich die choreografischen Einfälle auch sein mögen, es stellt sich in diesem ersten Teil, in der jede Szene gleich wichtig zu sein scheint, bald Ermüdung ein.
Am eindringlichsten wird die Choreografie in den Ensembleszenen, denn Nacho Duato versteht es, die Energie die Gruppe zu mobilisieren, und diese hat sich in seinen Stil bereits sehr gut eingetanzt. Vor allem die Männer verkörpern das dynamisch-raumgreifende Tanzidiom ihres Chefs überzeugend. Und so wird auch die Toccata für Orgel für acht Tänzer im zweiten Teil zum Höhepunkt des Abends. In ihren weit schwingenden schwarzen Mänteln mit fuchsia-färbigem Futter (Kostüme: Nacho Duato in Zusammenarbeit mit Ismael Aznar) fegen sie als Chor, aus dem sich immer wieder Einzelne herausschälen, weit ausholend über die Bühne. Doch im darauf folgenden Bild trippeln die Damen wie ferngesteuerte Automaten mit abgewinkelten Armen herum und verwischen den energetischen Aufschwung.
Die markante Ausstattung des Architekten Jaffa Chalabi verändert die Stimmungen der beiden Teile. Evozieren die Faltungen der Metallteile im Bühnenhintergrund in Teil 1 ("Vielfältigkeit") noch barocke Üppigkeit, so wird der Prospekt im zweiten Teil ("Formen und Stille der Leere") zu einer glatten Fläche, an der entlang einer Stoffbahn ein Lichtstrahl wie ein Wasserfall herabrinnt. Am Ende wird der Tod sie herunterreißen, die an der Vorderseite montierten Folien fallen und geben den Blick auf das Gerüst frei, an dessen Rampe die TänzerInnen im hellblauen Licht himmelwärts aufsteigen.
Insgesamt ist der fast zweistündige Tanz zu Musik von Bach zweifelsfrei ein angenehmes Erlebnis. Doch darüberhinaus vermisst man eine klare Linie, die das Changieren zwischen musikalisch-tänzerischer Abstraktion einerseits und konkreter Geschichten andererseits nachvollziehbar machen würde. Auch die ästhetischen Entscheidungen wirken teilweise unentschlossen. Schade, dass Duato diese Wiederaufnahme nicht zu einigen Kürzungen oder Änderungen genützt hat, auch um den reichlich vorhandenen Kitsch und Pathos rauszunehmen.
Staatsballett Berlin: „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“, Premiere am 14. März 2015 in der Komischen Oper Berlin. Weitere Vorstellungen am 26. März, 2., 18. 29. April, 5. Mai sowie 1., 3., 22. und 29. Juni