Dass die in Dänemark beheimatete Tänzerin und Choreografin bei ihrem zweiten Gastspiel im Rahmen vom steirischen herbst eine mehr als zwei Jahrhunderte währende Grazer Tanz-Tradition thematisch gewissermaßen „nur“ fortsetzte (siehe „Wiener Tanzgeschichten“), ist nach der Uraufführung von „7 Pleasures“ ebenda freudvoll zu bestätigen und lustvoll zu ergänzen. Ist doch ihre den Intellekt und so manchen der Sinne anregende Performance ein aufgefächerter Anstoß zu neuen oder zumindest erweiterten und erweiternden Perspektiven.
Die ‚Einstimmung‘ erfolgt unmittelbar: Durch anhaltend laut hämmernde Musik (die von manchen als grenzwertig empfunden und zu Ohrenstöpsel greifen lässt) während des Einnehmens der Plätze und durch einen vergleichsweise „leisen“ Start der eigentlichen Vorführung, wenn nämlich einer nach dem anderen der verstreut im Publikum sitzenden zwölf Performer sich seiner Kleidung entledigt und auf die Bühne geht. Diese in unmittelbarer Nähe sich selbstverständlich vollführenden, unüblichen Aktionen versetzen endgültig die Zuseher in Spannung – und tragen bis zum Schluss der folgenden 90 Minuten.
Ein Schlüssel zu diesem Erfolg ist nicht nur die hohe Sinnlichkeit des Gezeigten, sondern auch die Wiederholung so wie - und selbst wenn es wie Widerspruch klingt - die Zurücknahmen: von der üblichen Geschwindigkeit, von Ablenkendem wie etwa (auch noch so dezenter) Kleidung, von einer großen Zahl an Ereignissen oder – über längere Passagen – von Musik. Ingvartsen fokussiert auf den Körper und auch hierbei kaum auf den individuellen, sondern als Teil und in der Art vieler. Damit ist auch der Zuseher reduziert auf die Aufnahme des (ihm) Wesentlichen: Auf nahezu abstrakt Formales, wenn sich die Körper in konstanter Verbindung zueinander und gemächlichem Fluss in den Raum und über vereinzeltes Mobiliar wälzen als eine Installation in Bewegung von nahezu unwirklicher und fremdartig-faszinierender Art; auf die Intimität sich achtsam berührender Körper, wenn sie – sexuell konnotiert oder nicht – einander näher kommen, sich abtasten, sich lösen; auf das Spiel mit Verfremdung vertrauter Handlungen in unüblichem Zusammenhang. Wenn etwa Gegenstände intensiv liebkost werden, was unter Anderem ein Verweisen auf die politische Dimensionen des Vorgeführten im Sinne der Frage unterstreicht: Was ist heute den Menschen von Wert? So wie etwa die gleichgültige Ausdruckslosigkeit der Gesichter, ihre Beziehungslosigkeit, Austauschbarkeit auch im intimen Miteinander, in höchster Erregung, zu zweit oder in der Gruppe – das berührt, geht unter die Haut, erregt; pornographisch ist es deswegen nicht im entferntesten.
Dies gilt auch für die geniale Schluss-Sequenz, die die Aufmerksamkeit auf rhythmisches Stöhnen lenkt: In Variationen und live generiert von den Performern, nach und nach durch Collage-Technik komplexer werdend: So etwa verführt Ingvartsen auch akustisch zu einem, tief verwurzelte Verhaltens-Klischees durchbrechenden Reagieren - zum begeisterten Zuhören, obwohl doch fast jedermann zum verschämt Weghören erzogen wurde.
Im noch so durchdachten Spiel kann nicht jeder gewinnen - aber dieses Spiel meinungsbildender, meinungsverändernder, auf jeden Fall denkanregender und diskussionswürdiger Grenzüberschreitungen ist ein Gewinn für sich, kann einer, ein kleinerer oder größerer, für Zuseher sein.
Mette Ingvartsen: "7 Pleasures", Uraufführung am 26. September 2015 im Dom im Berg im Rahmen des steirischen herbst.
"7 Pleasures" ist am 30. und 31. Oktober im Tanzquartier Wien zu sehen. Am 28. und 29. Oktober gastiert Mette Ingvartsen ebendort mit "69 Positions".