Mit dem neo-expressionistischen Gestus von Stephan Thoss, der neoklassischen Eleganz von Christopher Wheeldon und den verschmitzten Ballett-Divertissements von Jerome Robbins präsentierte der erste Premierenabend des Wiener Staatsballetts in dieser Saison stilistische Vielfalt. Ebenso vielseitig war das Staatsopernorchester unter der musikalischen Leitung von Alexander Ingram mit Scores von Philippe Glass, Joby Talbot und Giuseppe Verdi im Einsatz.
Das Highlight war der Mittelteil: Christopher Wheeldons „Fool’s Paradise“ ist eine edle Parabel auf den Ausnahmezustand des Verliebtseins. Es ist die erste Arbeit des britischen Erfolgschoreografen und Artistic Associate beim Royal Ballet in Wien. „Fool’s Paradise“ entspricht dem deutschen Ausdruck „Liebe macht blind“, und bereits im ersten Bild werden Assoziationen an Shakespeares Feenwelt im „Sommernachtstraum“ wach. Nicht durch spezifische Rollen – das Ballett ist nicht narrativ –, sondern durch eine märchenhafte Atmosphäre, die einerseits durch das Bühnenbild, in dem Goldflocken über einen Bildschirm fallen, und andererseits durch den leichtfüßigen Wechsel der Beziehungen entsteht. In Duetten und Trios manifestieren sich kleine, flüchtige Annäherungen, Verbindungen und Auflösungen, in denen sich das Spiel der Liebeständeleien entfaltet, und sich am Ende zu einer turmartigen Skulptur verdichtet. Die Musik von Joby Talbot unterstützt die szenischen Stimmungen durch elegische oder jazzige Klangfarben und verleiht dem Bühnengeschehen epische Breite (die ursprüngliche Filmmusik wurde für das Ballett adaptiert). Der Musiktitel „Dying Swan“ wird von Wheeldon in einigen Hebungen angedeutet – fast beiläufig blitzt er hier und dort als unaufdringliches Zitat auf. Der neoklassische Stil ist für die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts maßgeschneidert: Olga Esina, Roman Lazik, Eno Peci, Davide Dato, Ioanna Avraam, Kiyoka Hashimoto, Greig Matthews, Richard Szabó und Gala Jovanovic bringen „Fool’s Paradise“ zum Funkeln.
Stephan Thoss’ „Blaubart“-Version hatte seine Wiener Premiere 2012 an der Volksoper. Nun hat es, um den Prolog gekürzt, im Rahmen des mehrteiligen Abends Eingang ins Haus am Ring gefunden. Die größere Bühne macht das Ballett opulenter, gibt nicht nur dem Bühnenbild mit seinen zahlreichen Türen und verschiebbaren Wände, die Einblick in „Blaubarts Geheimnis“ geben, sondern auch der Dramatik mehr Raum. Thoss Bewegungsduktus ist stark vom Ausdruckstanz geprägt, ist der Choreograf als Absolvent der Palucca-Schule in Dresden doch in der Joos/Leeder Methodik ausgebildet. Seine aussagekräftigen Handlungsballette (darunter Neubearbeitungen von Klassikern wie „Giselle M.“, „Dornröschen“, „Schwanensee“ und „Romeo und Julia“) haben rasch Einzug in das Repertoire der städtischen und staatlichen Ballettcompagnien in Deutschland gefunden. Und doch scheinen die Balletttänzer für seinen Stil fast zu perfekt. Man kann jede Pose in den abgehackten Bewegungen quasi mitzählen, die klassische Schulung der gestreckten Gliedmaßen verzerren die Optik des expressionistischen Duktus. Der emotionale Impakt, den ein geerdeter Bewegungszugang vermitteln könnte, bleibt weitgehend aus. Das Bewegungsmaterial ist nicht sehr variationsreich und für die unterschiedlichen Rollen wenig differenziert, ebenso wie die akustische Ebene mit Werken von Philipp Glass keine große Abwechslung bietet. Das Resümee fällt dennoch zugunsten der Tänzer (und Musiker) aus: Denn Alice Firenze (Judith), Kirill Kourlaev (Blaubart), Alex Kaydanovskiy (Blaubarts Alter Ego) und Rebecca Horner – die als Mutter ihre düstere Präsenz bedrohlich einbringt – tanzen auch diesen ihnen fremden Stil mit engagiertem Einsatz und voller Integrität.
Jerome Robbins „The Four Seasons“ beendet den Abend mit einem Reigen an Divertissements, die er nach der Ballettmusik „Die Vier Jahreszeiten“ aus „Die sizilianische Vesper“ von Giuseppe Verdi benannt hat. Dazu mischte Robbins noch weitere Ballettwerke des Opernkomponisten und kreierte einen mit mythologischen Figuren angereicherten Jahreszeiten-Reigen. Die Allegorien des Winters, des Frühlings, des Sommers und des Herbst haben, zusammen mit Janus, vor einem Schild mit dem Namen „Verdi“ ihren. Auftritt. Danach werden die einzelnen Jahreszeiten in Divertissements mit jeder Menge Zitate aus der klassischen Ballettliteratur portraitiert. Der Winter mit einem fröstelnden Corps en blanc, der Solistin Ioanna Avraam und zwei Zephiren (Dumitru Taran, Géraud Wielick). Maria Yakovleva und Mihail Sosnovshi bringen Frühlingsgefühle. Ketevan Papava verströmt lasziv-sinnliche Sommerwärme im Duett mit Robert Gabdullin. Virtuoser Höhepunkt ist der Herbst mit Liudmila Konovalova und Denys Cherevychko als Solistenpaar und einem munteren Faun (köstlich: Davide Dato). Dem Werk sieht man sein Alter an (Uraufführung 1979), und ob Robbins sie humoristisch oder doch ernst gemeint hat, ist nicht ganz eindeutig. In jedem Falls sorgt die frische Umsetzung des Staatsballetts und des Orchesters damit für einen heiteren Ausklang des Abends.
Wiener Staatsballett: "Thoss | Wheeldon | Robbins", Premiere am 29. Oktober 2015 in der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 3., 6. und 10. November 2015