Sterne im Foyer – metallisch-silbern, mit leicht abgegriffener Patina. Ein dekorativer Hingucker, könnte man meinen, zumal die letzte Uraufführung am 6. November 2015 des scheidenden Ballettintendanten Kevin O’Day für sein Ballett am Nationaltheater Mannheim in die Vorweihnachtszeit fällt. Plötzlich, kurz vor Premierenbeginn, kommt Gesang und Bewegung ins Spiel. Zwei Tänzerinnen in goldenem Gewand umkreiseln die schmucken Raumteiler. Sie drehen und verbiegen sich wie verästelte Halme im Wind.
Dazu durchströmen die zarten Stimmen von 32 Kindern des am Haus beheimateten Chors die weitläufige Halle: Sphärenklänge als Auftakt und Einstimmung für die folgende 70-minütige Auseinandersetzung mit Wendepunkten und Weggabelungen im Kreislauf von Kunstschaffen und Menschenleben.
Grundlage für die Tanzproduktion „Alpha – Omega“ im Schauspielhaus, die Rückschau halten und zugleich einen Neubeginn markieren soll, sind die „Four Quartets“ des englischen Lyrikers T. S. Eliot. Ein wichtiges Thema darin: Einheit und Auflösung sowie die Verschachtelung im Universum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Motive, die sowohl dem Choreografen O’Day als auch dem New Yorker Komponisten John King dazu dienten, die beiden in der Performance aufeinandertreffenden Ausdrucksschienen Tanz (gleitend-dynamisch-athletisch) und Musik (Gesang und ein Streicherquartett live im Wechsel mit elektronischem bzw. retrogeneriertem Sound) in eine (gleich den Jahreszeiten oder Elementen) viergeteilte (Zeit)Struktur einzupassen. Sie ist der offene Rahmen, in dem sich 13 Interpreten in nahezu rastlos überlappenden Gruppierungen aus Solisten bzw. Paaren präsentieren. Oder – anders ausgedrückt – sich unter vollem Einsatz ihrer smart-agilen Körper hingebungsvoll an einem Sujet abarbeiten, dessen Inhalt sich nur schwer durch bloßes Betrachten erschließen lässt.
Die Atmosphäre dominiert der nüchterne, dabei keineswegs unpoetisch wirkende (Einheits-)Kosmos des Bühnenausstatters Thomas Mika. Auf zwei scheinbar massive Betonwände werden Landschafts-, vor allem aber große Baumaufnahmen des Mannheimer Fotokünstlers Peter Schlör projiziert. Ein kraftvoller Akzent in Hell/Dunkel, der die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum durchbricht. Genau wie drei riesige, seitlich in den Raum hineinragende Lichtröhrenschächte. Symbolhaft liegen darin kleinere Sterne, die den gesamten Verlauf des Stücks begleiten. Lediglich die changierenden Lichtstimmungen von Mark Stanley spielen mit leichtem Blau. Den Eindruck vom Anderswo – einem Arkadien ohne Farben – unterstreicht schließlich noch das breite Wasserbassin im Vordergrund, in dem sich das formabstrakte Geschehen so schön spiegelt, bis es die Tänzer in der finalen Klimax zu wilden Planschereien verleitet.
Konform zu Kings mal kratzig aufgeregter, mal Melodiemuster aufgreifender Partitur variiert Kevin O’Days Solistenensemble gedehnte Moves, Kontorsionen und langsame Sequenzen mit eruptivem Aktionismus aus Sprüngen, Rutschern und In-die-Knie-Sackern. Permanent schnelle Richtungswechsel werden mit spontanen Bewegungspausen kombiniert, wobei das Singen der Kinder den rhythmischen Drive diktiert. Noch etwas schüchtern in den blues- bzw. gospelartigen Solopassagen: Antonia Schuchardt. Doch die Bewegungscollage nutzt sich ab, mutiert zu einer Schleife von Beliebigkeit. Vielleicht sogar gewollt, denn bisweilen scheppert und säuselt auch Kings Sound wie ein endlos oft abgespieltes Kassettenband. Enthusiasmiert gibt sich das Publikum nichtsdestotrotz. Es wird kräftig applaudiert. Und zum Schluss alles wieder zurück auf Anfang gespult. Nicht auf der Bühne. Im Foyer!
Ballett am Nationaltheater Mannheim: „Alpha – Omega“ Uraufführung am 6. November 2015 im Schauspielhaus Mannheim. Noch zu sehen am 2. und.16. Januar sowie 20. Feburar 2016
Über den Kevin O’Day
Seit nunmehr 14 Jahren ist Kevin O’Day Ballettchef am Nationaltheater Mannheim. Gemeinsam mit seiner aus Kanada stammenden Stellvertreterin und ebenfalls für das Haus aktiven Choreografin Dominique Dumais (Hauptwerke: „Lebenslinien“, 2005, „Chansons“, 2008, „Frida Kahlo“, 2010 und „PURE“, 2014) wurde er im März 2013 zum Intendanten der Sparte Ballett berufen. So entstanden seit 2002 mehr als 40 Tanzproduktionen – darunter zahlreiche Ensemblestücke (oft mit Livemusik) wie beispielsweise O’Days Goldberg-Variationen (2004), eine stunde zehn (2006) oder Kammerspiel (2014) sowie zahlreiche mehrteilige Ballettabende. Ein Schwerpunkt des Amerikaners, der seine Ausbildung an der Joffrey Ballett School in New York absolviert hatte, ist die Entwicklung neuer Formate und innovativer Ansätze. Selbst als Solist während seiner Zeit als Tänzer beim American Dance Theatre, am Frankfurt Ballett, dem New York City Ballet und im White Oak Dance Project von Mikhail Baryshnikov engagiert, arbeitete er außerdem eine Zeit lang mit der Post-Modern-Ikone Twyla Tharp zusammen. Den Anstoß, selbst auf die andere – die Seite des Choreografen – zu wechseln, gab ihm 1994 Mikhail Baryshnikov. Werke für das New York City Ballet, das Stuttgarter Ballett (hier kreierte er abendfüllend „Hamlet“) und Les Ballets de Monte Carlo folgten.
O’Days Handschrift in Mannheim war von Beginn an von der Energie geprägt, nicht nur eine leistungsstarke, ideenoffene Kompanie zusammenzustellen, sondern auch kreativ wichtige, über die Stadtgrenzen hinaus beachtete Impulse zu setzen. Und dabei zugleich ein ausgewogen-zeitgemäßes Repertoire zu entwickeln, in dem auch das Handlungsballett einen festen Platz einnimmt. In diesem Sinn vollendete er nach „Romeo und Julia“ (2011) und „Othello“ (2013) Anfang des Jahres 2015 mit der Uraufführung von „2 Gents“ (frei nach Shakespeares Komödie „Zwei Herren aus Verona“) seine Trilogie getanzter Adaptionen von Stücken des berühmten Dramatikers. Mit zehn Auflagen der Choreografischen Werkstatt motivierte O’Day seit 2005 außerdem Mitglieder seines Ensemble, ihre Visionen in Bewegung zu setzen und öffentlich zur Diskussion zu stellen.
2015 beschloss die Stadt Mannheim als Rechtsträgerin des Nationaltheaters Mannheim die Ballettintendanz ab der Spielzeit 2016/17 neu zu besetzen. Bleibt abzuwarten, was die Zukunft zum einen für das Choreografen-Paar und zum anderen für die sich neu zu positionierende Tanzsparte in Deutschlands kulturaffiner barocker Quadratstadt bringen wird.