Tanzfest mit handfestem Drama. Alle Karten waren innerhalb kürzester Zeit vergriffen: „Schwanensee“ lautete das magische Wort am Opernhaus Zürich. Damit nicht genug. Das Ballett der Ballette sollte in der ursprünglichen St. Petersburger Version aus dem Jahr 1895 (der legendären Gemeinschaftsarbeit von Marius Petipa und Lew Iwanow) wieder zum Leben erwachen – unter Anleitung des international gefragtesten Klassik-Choreografen: Alexei Ratmansky.
Wie bei keinem sonst in seiner Berufssparte treiben den gebürtigen Russen mit Wahlheimat New York zwei Leidenschaften an: eigene Werke zu kreieren und seine Bewunderung für den Schrittreichtum und die phänomenale Ballettkunstfertigkeit von Marius Petipa. „Wenigstens ein Theater der Welt sollte dessen Originalschritte zeigen!“, so Ratmanskys Plädoyer.
Das künstlerische Fundament dazu: die in der Sergejew-Collection der Harvard University in den USA aufbewahrten Tanznotationen von Wladimir Stepanow, mit deren Hilfe er bereits „Le Corsaire“ (Bolschoi, 2007), „Paquita“ (Bayerisches Staatsballett, 2014) und „Dornröschen“ (American Ballet Theatre, 2015) auf lebendige Art und Weise zurück zu ihren Urformen geführt hat. Ratmansky ist darin mittlerweile Spezialist. Er sammelt historisches Foto- und Filmmaterial, wühlt in Archiven und gibt im Probensaal alles, um mit seinem Wissen und seiner rhythmisch-dynamischen Könnerschaft heutige Tänzer von den über 100 Jahre alten Stück-Qualitäten und deren – aus unserer Sicht bisweilen ungewöhnlichen – interpretatorischen Besonderheiten zu überzeugen. Nur wenn die Interpreten sich trotz herkömmlicher Stilmittel mit dem Werk identifizieren, springt der Funke auch auf das Publikum über.
Die Premiere am 6. Februar mit Alexander Jones als Prinz Siegfried und Viktorina Kapitonova in der Doppelrolle der Odette/Odile hat einen Sturm der Begeisterung entfacht. Kurzfristig setzte man sogar noch eine Zusatzaufführung des dramatisch-schönen Märchenballetts an, das für Jubel beim Publikum und bis Spielzeitende an allen Termin für ein ausverkauftes Haus sorgt. Weil die alternativ besetzte Anna Khamzina sich beim Training verletzte, musste am 26. Februar auch ihr Partner Denis Vieira zugunsten der Erstbesetzung pausieren. Das unverhoffte Wiedersehen mit dem vormaligen Ersten Solisten des Stuttgarter Balletts war eine große Freude. Mit betont eleganter Erscheinung verkörperte Jones einen weniger düsteren denn in seinem Junggesellentum vergnügungslustigen Prinzen.
Im ersten Bild feiern Hof und Volk mit zahlreichen Tänzen seine Volljährigkeit. Selbst nachdem die Königinmutter ihren Sohn an die bevorstehende Brautwahl erinnert – eine der markanten pantomimischen Spielszenen, in denen Jones mit schlichter, klar ausgeführter Gestik überzeugt –, herrscht ausgelassene Stimmung, die im Aufbruch zur Jagd gipfelt. Die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Rossen Milanov steuert dazu ein melodiöses Feuerwerk an Klangfülle bei. Tschaikowskys Ballettpartitur hat mitunter bedrohliche Power in sich. Das lassen die Musiker bereits in der Ouvertüre spüren. Und spornen die Tänzer weitere zweieinhalb Stunden mit flotten Tempi zu filigranen Fußwerkstickereien an: ein Rausch an Sprüngen, Drehern und Wischern. Dazu hantiert das Ensemble immer wieder mit anderen Requisiten: Blumensträußchen, Körben, Bändern, Tüchern, Schemeln und einem Maibaum. Im Pas de trois führen Michelle Willems (Junior Ballett! – später tanzt sie, einen Fächer in der Hand, noch eine der sechs Bräute) und Elizabeth Wisenberg an der Seite von Siegfrieds Freund Benno (herausragend: Wei Chen) beispielhaft Petipas leicht anmutende Kunst der schnellen Beinarbeit vor.
Von Jérôme Kaplan farbenfroh historisierend in Szene gesetzt, verwöhnt Ratmanskys „Schwanensee“-Revival das Auge mit derart brillant-virtuosen Solisten-Nummern, rasanten Charaktertänzen (absolutes Highlight: die vier fulminant dargebotenen und choreografisch originell verschraubten Nationaltänze im 2. Akt) und einer schier unglaublichen Vielfalt an raumgreifenden Formationen. Wenn die von Zauberer Rotbart (raubvogelhaft: Cristian Alex Assis) in Schwäne verzauberten Mädchen in Reihen, spitz zulaufenden Diagonalen und pittoresk arrangierten Gruppierungen die Bühne mit ihren weißen, federbestückten Kostümen vereinnahmen, mischen sich Jäger aus Siegfrieds Gefolge und zuletzt schwarze Schwäne mit ins Bild. Hübsche Akzente, die im Zuge der zunehmenden Psychologisierung des Stoffs wegfielen.
Ratmanskys mitreißend einstudierte Inszenierung hinterfragt Sehgewohnheiten und macht darüber hinaus den Wandel im Bewegungsduktus des klassischen Balletts sichtbar. Die Fußarbeit war komplexer, feiner, kleindetaillierter und strenger. Dafür durften die Rollenträger ihren Oberkörper viel drastischer, weicher und narrativer einsetzen. Anmut wurde betont und Gefühle effektreich mit starker (Gesichts-)Mimik unterlegt. Viktorina Kapitonova hat sich ganz in diese alte Ausdrucksform hineingelebt – ohne die moderne Ballerina, die sie ist, zu verraten. Statt wie heute üblich mit den Armen zu flattern, lässt sie als Schwanenprinzessin das verzweifelt-schüchterne Mädchen Odette durchscheinen, deren elegische Zuneigung sich in einem nicht nach hinten, sondern zur Seite geneigten Cambré widerspiegelt. Als Odile mutiert sie zur Verführerin, die von Vater Rotbart instruiert dem Prinzen erfrischend keck und mit technischer Präzision in Arabesquen und Fouettes den Kopf verdreht.
Am Ende verzeiht Odette Siegfried, der zum Narren gehalten wurde. Sie stürzt sich, gefolgt vom Prinzen, in den See. Was folgt ist die – heute nicht mehr zeitgemäße Apotheose –, die die Liebenden auf ewig in einer riesigen Schwanenfigur vereint. Das zündet und unterhält wunderbar. Wahrhaft eine tolle Wiederentdeckung!
Ballett Zürich: „Schwanensee“, Premiere am 6. Februar 2016 im Opernhaus Zürich, gesehene Vorstellung am 26. Februar. Weitere Vorstellungen: 28. Februar, 2., 28. März, 30. April, 1., 4., 5., 6., 16., 22, Mai