Blitzsaubere Wiederaufnahme von Sir Peter Wrights „Giselle“. Schrecksekunde vorweg: Als sich der Vorhang nach Adolphe Adams musikalischer Introduktion zum Einstand des von Ballettchef Igor Zelensky neu aufgestellten Bayerischen Staatsballetts hob, wurden die Erinnerungen mit nicht wegzuretuschierenden 42 Jahren Münchner Interpretationsgeschichte konfrontiert. War das Outfit dieses vermeintlich schlichten Ballettstücks wirklich so hölzern-schwer und weichzeichnerdunkel?
Neun Jahre hatte man Peter Farmers herbstfarbene Kulissen des romantischen Zweiakters „Giselle“ nicht mehr auf der Bühne gesehen. Am Pult: Aivo Välja mit einem Staatsorchester, das den Ballettverlauf gerne laut, aber insgesamt einfühlsam begleitete.
Rechts das bescheidene Wirtschaftshäuschen, links die Hütte, in der Herzog Albrecht sein nobles Gewand gegen die einfachen Klamotten eines Dorfbewohners tauscht. Mit Sergei Polunins Entree nahm die altbekannte Handlung ihren schicksalhaften Lauf. Beim Verkleiden ging Adam Zvonař als Wilfried dem standesgemäß bereits Verlobten mit pantomimisch klaren Ansagen zur Hand. Nicht weniger schauspielerisch aktiv mischte der hochgradig eifersüchtige Hilarion alias Matej Urban am Fortgang des Geschehens mit.
Viele im ausverkauften Nationaltheater waren gekommen, um den 26-jährigen Ukrainer Polunin tanzen zu sehen, der fortan als ständiger Gast das hiesige Ensemble bereichern wird. 2009 vom Royal Ballet zum jüngsten Ersten Solisten seit je ernannt, wurde er seit 2012 von Zelensky unter die Fittiche genommen. Einen Auftrittsapplaus wie für die künftig ebenfalls in München gastierende Premieren-Giselle Natalia Osipova (übrigens Lebensgefährtin Polunins) gab es für ihn allerdings (noch) nicht.
Das Publikum verharrte eher still – bis Höhe und Ausdauer von Polunins Sprungserien im 2. Akt (mehr noch als sein darstellerischer Einsatz) keine Zurückhaltung mehr zuließ. Der vollmonddüsteren, nebelreichen Waldszenerie wäre eine Auffrischung gut bekommen, doch letztlich überzeugten einmal mehr Sir Peter Wrights choreografisch plausibel gezeichnete Charaktere – und die wundersam berührende, tanztechnisch über jede Kritik erhabene Harmonie des Hauptpaars. Herausragend war Osipovas Delikatesse einer federleichten Handhabe aller Schrittkombinationen, Balancen und Pirouetten. Sogar der knöchellange Tüllrock schwang einfach perfekt und genau auf den Takt der Musik um ihre Gestalt herum.
In die Gruppe der bemerkenswert einheitlich in Arabesken und mit überkreuzten Armen übers Plateau irrlichternden Wilis fügte sich Osipova mit todesgleich halbgeschlossenen Lidern. Weniger ein ätherisches, als ein menschlich selbstbestimmt-fühlendes Geschöpf. Etwas gewöhnungsbedürftig: ihre recht eigene Ausgestaltung des Abdriftens in eine Parallelwelt des Wahnsinns, nachdem Giselle erkennt, von Albrecht übel betrogen worden zu sein. Eine Irritation, die der 90-jährige Choreograf, den man eigens zur Neuabnahme seines Werk geholt hatte und der die Ballerina aus London gut kennt, in der Pause lachend aufklärt: „Natalia macht in jeder Vorstellung etwas komplett anderes. Heute spielte sie mir fast zu verrückt.“ Vermutlich wird bei den folgenden Besetzungen Wrights ursprüngliche, leitmotivisch stärker rückblickgeprägte und trotzdem im Selbstmord durch Albrechts Schwert gipfelnde Spielvariante deutlicher wiederzuerkennen sein.
Für ausreichend wirkungsvolle Eindrücke sorgte das überaus illustre erste neue Paar Polunin/Osipova auf jeden Fall. Die anfängliche Skepsis – auch dem insgesamt radikal verjüngten Ensemble gegenüber – war nach etwas mehr als zwei gemeinsamen Stunden verschwunden. Jonah Cook, mit Saisonbeginn zum Solisten aufgerückt und Anwärter auf die konditionsraubende Rolle des Crassus in „Spartacus“, wusste sich im Pas de six der Landleute neben dem führenden, nicht minder schlanken Alexey Popov (ebenfalls Solist) und Dmitry Vyskubenko (Corps de ballet) erwartungsgemäß gut zu behaupten.
Flink auf Spitzen wie selten präsentierten sich die Damen. Daher gab es kaum eine Chance, im fröhlich-geschwinden Tanzreigen bekannte Gesichter zu finden. Der Abend mündete in applausintensives Wohlgefallen. Wiederholt wurden Polunin und Osipova zum Schlussjubel vor den Vorhang gerufen. Verdient hätte dies auch Prisca Zeisel. In der Rolle der unnachgiebigen Wilis-Königin Myrtha schmetterte sie mit resoluten Armbewegungen und kalten Blicken Giselles Bitten für Albrecht gekonnt ab. Was für ein Kompanie-Potenzial!
Bayerisches Staatsballett „Giselle“ Wiederaufnahme am 23. September 2016. Weitere Vorstellungen mit wechselnden Besetzungen: 29. September, 2.Oktober, 24. & 25. November im Münchner Nationaltheater