Beziehungsstress und Torerogerangel. Mit Stücken von Wayne McGregor, Marco Goecke, Mauro de Candia und Gregor Seyffert setzt die Ballettschule Berlin ihren zukunftsweisenden Weg fort. Während das Berliner Staatsballett durch eine politisch motivierte und wenig durchdachte Personalpolitik an höchster Stelle seit Jahren in die Krise manövriert wird, setzt die Schule auf Kontinuität und (zeitgenössische) choreografische Vielfalt.
In der Gala-Pause machte die neueste Nachricht der Berliner Ballett-Misere die Runde: Nacho Duato scheidet vorzeitig aus der Intendanz und begrenzt damit die Zahl seiner Jahre beim Staatsballett auf vier. Dies die gute Nachricht. Statt allerdings die unverhoffte Chance für die Suche nach einem wirklich potenten Nachfolger zu nutzen, soll nun Johannes Öhman, der Ballett-Nobody aus Stockholm, ein Jahr früher den roten Teppich für Sasha Waltz ausrollen und ihre Inthronisation vorbereiten. Berlins Kulturpolitik hat nichts aus den auch internationalen Protesten gelernt und hält stur an seiner fatalen Fehlentscheidung fest. Man möchte sich die Haare raufen, gäbe es in der Stadt nicht einen Garanten für qualitätvollen Tanz.
Seit über 65 Jahren bildet die Staatliche Ballettschule Berlin unverdrossen und allen modischen Trends zum Trotz Tänzer von hohem Standard aus, die wie der gegenwärtige Absolventenjahrgang Engagements im In- und Ausland ergattern. Nicht genug damit: Die Schule hat unter der Leitung von Ralf Stabel über die Jahre so etwas wie einen Spielbetrieb aufgebaut und tritt mehrmals pro Saison mit großen Produktionen an die Öffentlichkeit. Heißt das in anderen Schulen Jahresabschlussveranstaltung, gastieren die Berliner Schüler und Studenten mit ihren Programmen oder einzelnen Beiträgen während des Jahres selbst im benachbarten Ausland. Und auch damit noch nicht genug. Eine kluge, an den Bedürfnissen der Schüler wie ihrer späteren Direktoren orientierte Planung lädt immer wieder namhafte Choreografen ein, mit den Studenten und für sie Neues zu entwickeln.
Hatte Gregor Seyffert als Künstlerischer Leiter 2015 Marco Goecke für eine Uraufführung gewinnen können, zog er diesmal gleich zwei Trümpfe aus dem Hut. Während das Staatsballett einen unsäglichen „Daphnis und Chloé“ von Benjamin Millepied präsentierte, gelang es der Schule, Wayne McGregor und Mauro de Candia ins Haus zu holen. Zu recht nennt sich das neue Schulprogramm deshalb „The Contemporaries, Volume II“, in Fortsetzung des Teils vom vorigen Schuljahr. Dass im Dezember das 65-jährige Schulbestehen mit einer großen internationalen Gala begangen wurde und erst kürzlich, ebenfalls im Schiller Theater, Gregor Seyfferts erfolgreiches Handlungsballett „Der kleine Prinz“ lief, zeigt, wie praxisbezogen in der Berliner Schule gedacht wird.
Wie sehr auch der Gala-Untertitel „Im Hier und Jetzt“ gerechtfertigt ist, bewies schon das Auftaktstück. Aus McGregors für Random Dance kreiertem „Far“ hat Ex-Interpretin Anna Nowak mit Studenten der letzten Jahrgänge den ersten Teil einstudiert. Was harmonisch beginnt, mit Fackeln, die in einem schwarzen Raum die Suche eines Paares nach dem richtigen Verhältnis zum Partner illuminieren, und sanfter Musik, wird bald vom echten Leben unterbrochen. Jugendliche auf dem Selbsttrip erobern die Szene, im Solo wie in diversen Gruppierungen und angefeuert von metallischen Klängen. Als Röte sie übergießt, brechen Gegensätze auf, die bis zum Kampf führen. Was an Bindungen entstanden ist und zu einer zerrend gefassten Kreisform führt, löst sich abrupt in kleinteilige Rangeleien mit fliegenden Sprüngen, rasanten Hebungen und Schleuderfiguren auf. Am Ende verlassen die Tänzer einzeln wie Täter den Streitort. Weit hinein in den Raum dringt McGregors Bewegungsfluss und verlangt den fünf Paaren ein ungewohnt den gesamten Körper einsetzendes, durchaus unbequem zu handhabendes Tanzidiom ab. Gregor Glocke und Stine Kristapsone sind nicht nur in diesem hochdynamischen Ausschnitt das dominierende Paar, dem Jüngere wie Isabel Edwards, Anna Yeh, Victor Gonçalves Caixeta nacheifern.
Nutzt McGregors Tanz voll den dunklen, bisweilen nebelverhangene Raum, so stocken bei Marco Goecke die Bewegungen im Körper, als fänden sie aus seinem Labyrinth nicht den Ausgang. Arme rudern wild, oft eng am Leib, Hände durchstrubeln das Haar und schaben auf der Haut, Oberkörper kippen urplötzlich ab. Nichts hat Bestand, alles wechselt in Sekundenbruchteilen, scheint Platz zu machen für neue, bald wieder verworfene Bewegungsschnipsel und Seelenausbrüche. Unsicherheit, Angst zeugen einen schroffen, spitzwinklig wirkenden Tanzkanon, an dem man sich zu stechen scheint und der dennoch große Faszination ausübt. Zumal Nina Simones wie rasend vorgetragener Gospelgesang die Stimmung zusätzlich anheizt. Mit „All Long Dem Day“ lieh er Goeckes Erfindung auch den Titel, ist bei Vorstellungen bis ins Ausland zu einem Markenzeichen für die Schule geworden und bietet den fünf Mädchen und sieben Jungen Gelegenheit, eine andere Farbe ihres Könnens zu zeigen. Neben Gregor Glocke und Stine Kristapsone brilliert wie schon in „Far“ etwa auch Naohiro Ogawa.
Zwischen diesen beiden eher düsteren Beiträgen zum Weltbefinden steht eine Übernahme. Was Mauro de Candia, Osnabrücks derzeitiger Tanzchef, für die Tänzer von Introdans entworfen hat, passt auch den Jüngeren der Berliner Schule wie auf den Leib gegossen. Als „Meninos“, Edelknaben, kommentieren 14 unisex gekleidete Edeltoreadores Georges Bizets „Carmen“-Schmiss auf ansteckend heitere Weise, mit vielen spielerischen Einfällen, grotesk chaplinesken Momenten und dabei nah an den musikalischen Akzenten, dass sich auch beim Zuschauer Spannungen über den Weltenjammer wieder lösen. Wie sehr de Candia seinen Tänzern um die 15 Raum für Individualität lässt, beweist, dass auch Gleichtanz nicht uniformieren muss.
Erst recht individuell geht es beim großen Finale zu, das alle Alterststufen vom 1. bis 9. Ausbildungsjahr in Ravels „Bolero“ zusammenschweißt. Gut 80 junge und jüngste Lernende absolvieren in Larisa Dobrozhans choreografischen Arrangements, was Regisseur Gregor Seyffert daraus als Ausbildungs-Schnelldurchlauf inszeniert hat, von den ersten Schritte an der Stange bis zur Partnerarbeit im Pas de deux und imposanten Tricks in der Mitte und durch die Diagonale. „Die Zukunft beginnt jetzt“, so der Titel, ist mittlerweile ein getanztes Aushängeschild der Staatlichen Ballettschule geworden und zeigt: Mit einer sauberen klassischen Basis kann man auch McGregor, Goecke und Co. tanzen und ist bestens gerüstet für den Markt. Das Staatsballett sollte neidisch werden.
Staatliche Ballettschule Berlin und Schule für Artistik: "The Contemporaries. Volume II", Premiere am 16. März 2017 in der Staatsoper im Schiller Theater. Nächste Vorstellung am 1. Mai 2017.