Als wäre ein Spaceship gelandet … Nachdem in den letzten Jahrzehnten der europäische zeitgenössische Tanz zu einem starken Player geworden ist, haben wir gleichzeitig die Entwicklung in den USA weitgehend außer Acht gelassen. Doch dass von dort auch heute wieder zukunftsweisende Bewegungsansätze kommen, das erlebte das Publikum beim Gastspiel von Alonzo King mit seinem Lines Ballet im Festspielhaus St. Pölten.
Seien es die musikalischen Ballette von George Balanchine oder die Chance-Experimente von Merce Cunningham und John Cage – der Tanz made in USA ist immer körper- und bewegungsbetont. Alonzo King (oder Shen Wei um einen weiteren „Großen“ zu nennen) führen diese Tradition ins 21. Jahrhundert. Der 1952 geborene King beschäftigt sich in seinen Kreationen mit Organisationssystemen von Organismen und Materialien, die er in Form von Linien – Lines – wahrnimmt. Er verleiht ihrer internen Kommunikation Design und Form, zum Beispiel in einem imaginären Dschungel („Biophony“) oder im Gefüge von Sandkörnern. („Sand“). Wie andere Kollegen seiner Generation lässt er sich also von naturwissenschaftlichen Phänomenen inspirieren. (Darin ähnelt er übrigens Wayne McGregor, der demnächst, am 13. April, mit „Autobiography“ im Festspielhaus St. Pölten zu sehen ist.)
Auch wenn Alonzo King durchaus eine philosophische Grundhaltung vertritt, so transformiert er sie doch vollends und kompromisslos in eine tänzerische Aussage. Und die ist äußerst spannend – choreografisch ebenso wie durch die ganz spezielle Ästhetik der TänzerInnen.
Durchlässig, biegsam, geschmeidig, fast knochenlos dehnen sich diese Körper im Raum aus, bewegen sich mit einer geradezu überirdischen Leichtigkeit. Die Mischung aus klassischer Basis und zeitgenössischer Erweiterung ist schlicht bestechend und hypnotisierend. Jeder Tänzer, jede Tänzerin ist hier Solist, Solistin mit seinem, ihrem ganz speziellen Ausdruck. Einheitlichkeit ist dabei definitiv kein Konzept. Auch die unisono getanzten Gruppenszenen werden durch die kleinen, individuellen Abweichungen lebendig und plastisch. Linien im Sinne der Danse d’École sucht man hier vergebens.
In „Biophony“ versuchen sich diese BewegungsmeisterInnen an der Mimesis jener Wesen, die Bernie Krause und Richard Blackford in ihrem achtsätzigen Soundscape akustisch versammelt haben - da trompeten Elefanten, schreien Schimpansen, brummen Bienenschwärme, donnern Gewitter. Dabei geht es choreografisch keineswegs um plumpe Nachahmung der Tiere, die die Musik machen. Vielmehr entstehen vor unseren Augen flüchtige Bilder, die die TänzerInnen mit ihren ungewöhnlichen Gesten und Körperdimensionen beinahe impressionistisch in den Raum tupfen. Lyrischer wird es im zweiten Stück „Sand“ zum jazzigen Sound von Charles Lloyd und Jason Moran. Hier bestechen vor allem die pas de deux, bei denen sich die Körper in perfekter Passform aneinander fügen.
Die ästhetische Qualität ist auch dem Ausstatterteam von Alonzo Kings Lines Ballet geschuldet. Die Lichtstimmungen, gelegentlich durch Videoprojektionen verstärkt, stammen von Axel Morgenthaler. In „Sand“ verwandelt er den Schnürlvorhang im Bühnenhintergrund (Christopher Haas) in ein multiples Raumelement. Robert Rosenwasser, Mitbegründert und Co-Dorektor der Compagnie, zeichnet für die dezenten und doch so wirkungsvollen Kostüme verantwortlich. Die duftigen Röcke oder weiten Hosen, die transparenten Schleier, die gefiederten oder fellverbrämten Teile verlängern und verstärken die Bewegung und verstecken niemals die Körperformen.
Denn Alonzos Kings Werk ist Körpertheater, ist Tänzerchoreografie in Reinkultur. Und die Gelassenheit und gleichzeitige Dynamik in der Ausführung erzeugt einen visuellen Sog, in dem die Zeit still zu stehen scheint.
Gegen Ende des zweiten Teils leuchten grelle Scheinwerfer aus dem Off auf die Bühne. In meinem Traum ist es das Raumschiff, das diese eleganten und eloquenten Aliens zurückruft.
Alonzo King Lines Ballet am 24. Februar 2018 im Festspielhaus St. Pölten