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McGregor Kairos1Soviel Schlagkraft ist selten! Drei ästhetisch wie musikalisch unterschiedliche Choreografien hat der Brite Wayne McGregor in seinen Portraitabend für das Bayerische Staatsballett gepackt. Die drei Stücke erweisen sich im Programmverlauf als Gesamtkunstwerke aus Musik, Licht, wenigen markanten Ausstattungselementen und einer jeweils eigenwillig-schrägen, megaverschraubten und scharf konturierten Bewegungssprache.

Das Ganze clever gestaffelt und auf ein fulminantes Finale hin ausgerichtet: „Borderlands“ – 2013 vom San Francisco Ballet uraufgeführt – ist ein erlesener Beitrag der Tanzszene zum 100-jährigen Gründungsjubiläum des Bauhauses 2019.McGregor Borderlands

Dieses Sehabenteuer lenkt die Wahrnehmung des Betrachters in einem nüchternen Zimmerkabinett durch subtile farbliche Lichtstimmungsänderungen (Lucy Carter). Zudem zeichnet es sich dadurch aus, dass man McGregors Zugang mittels intensiver Recherche – in diesem Fall rund um den deutsch-amerikanischen Bauhaus-Künstler und Farbanalytiker Josef Albers – hier am ehesten nachvollziehen kann. Erstaunliche Erkenntnis: Auch die beiden vorangegangen Arbeiten sind plötzlich besser zu begreifen und konzeptionell einzuordnen. So bekommt man Lust, den Abend gleich nochmals anzusehen.

Der Münchner Kompanie unter Igor Zelensky ist mit „Portrait Wayne McGregor“ ein nachwirkendes zeitgenössisches Triptychon gelungen. Akustisch erlebnisreich aufgrund moderner Orchestermusik von Max Richter („Kairos“) und Kaija Saariaho („Sunyata“) sowie mal wirklich hörenswerten elektronischen Auftragskompositionen von Joel Cadburry und Paul Stoney („Borderlands“). Hinzu kommen diverse Qualitäten auf tänzerischer Ebene. McGregors Bewegungsfindungen sind Hightech-Dance pur: höchst virtuos, oft frappant, gleichzeitig enorm kontemplativ, voll kraftraubender, extrem linienverbogener, schneller und vertrackt dahinfließender Schrittvariationen. Besonders überrascht, wie sich selbst bei gröberen und hektischeren Passagen die bisweilen fast stoische Konzentriertheit der Akteure in den Zuschauerraum überträgt.

McGregor Sunyata2Sequenzen überlappen, werden synchronisiert oder kanonisch verschoben. Es gibt den gedehnten Augenblick hier und fantastische Momente von Gelassenheit dort. Ob als Solist oder Gruppe – Form steckt in jedem gestischen Detail. Präsenz und Präzision steigern sich zu Ausdruck – aller Abstraktion zum Trotz. Treten Paare in Interaktion, entsteht emotional knisternde Spannung. Dank gebührt hier den herausragenden Interpreten. Man müsste jeden einzelnen von ihnen hervorheben! Wir picken als tollen Ensemblezuwachs Elvina Ibraimova heraus, die Anfang April vom Moskauer Bolschoi Theater nach München wechselte und nun in McGregors Uraufführung „Sunyata“ debütierte.

Offenheit für Neuartiges vorausgesetzt sind werkprägende Bühnenlandschaften zu erleben, innerhalb derer die fabulösen Körper der Tänzerinnen und Tänzer in ungewohnt performativen Idiomen miteinander kommunizieren. Nicht immer lautlos, denn manchmal dürfen die Spitzenschuhe der Damen auch auf den Boden stampfen.

Die Reise in McGregors gegenwartsbezogenen Ballett-Kunst-Kosmos beginnt hinter einer je nach Beleuchtungseffekt mehr oder weniger durchsichtigen Gaze-Leinwand. Darauf erkennt man verwaschen die Linien einer Partitur. Später drängeln sich darauf tausend winzige Noten. Im Stroboskoplicht tauchen zehn Tänzer auf und verschwinden wieder. Diese Sekundenbilder brennen sich ins Bewusstsein ein. Dann kommt eine halbrunde Mauer ins Spiel. Sie wird umgangen, mit Fäusten traktiert und angetanzt – Männer und/oder Frauen ordentlich aneinander gefädelt.McGregor Kairos2

„Kairos“ entstand 2014 für das Zürich Ballett und schöpft sein Vokabular aus dem klassischen Tanztechnik-Fundus. Semantisch aber werden bekannte Elemente zu risikobehafteten neuen Strukturen verflochten. Becken rotieren, Arme schraffieren Muster in den Raum. Der Körper kippt und stahlharte Beine schnellen über 180 Grad hoch. Butterweiches, muskulöses Schlängeln und kautschukartige Elastizität lassen Regeln menschlicher Anatomie vergessen.

McGregor Sunyata1In den choreografisch ambitioniertesten und klanglich exotischsten Teil des Abends – McGregors dramaturgischen, für das Bayerische Staatsballett kreierten Ruhepol „Sunyata“ – führt Ksenia Ryzhkova ein. Dabei unterscheiden sich ihre Bewegungsattacken famos vom Duktus und den Betonungen, die sie im finalen „Borderlands“ praktiziert. Eine Herausforderung, die Wayne McGregor vor allem jenen sechs Tänzern abverlangte, die er gleich in zwei der drei Werke besetzte.

Wie bei „Borderlands“ legte er auch in „Sunyata“ bei der Ausstattung selbst Hand an. Schade nur, dass die sechs Vierzeiler des persischen Sufi-Mystikers Rumi, die inhaltlich sowohl Saariahos Komposition „Circle Map“ als McGregors Tanzumsetzung zugrunde liegen, szenisch nicht aufscheinen. Man muss sie im Programmbuch nachlesen, das zugleich ein McGregors Arbeiten reflektierender Gedichtband ist.McGregor Sunyata3

Dafür prangt eine überdimensionale persische Miniaturmalerei über der Szenerie. Mittenhinein hat McGregor ein Loch gestanzt und durch eine Scheibe ersetzt. Die leuchtet rot, wird von Schwärze überzogen und schillert zum Schluss nur mehr als heller Kreis einer Sonnenfinsternis. Am Boden sieht man das fehlende Bildsegment. Die acht Tänzer wirken kostümfarblich wie aus der aufgeschlagenen Seite gefallen. Stücken wie diesen sollte man sich vorbehaltlos aussetzen. Sie haben Potenzial, das Publikum öfter als nur einmal gefangen zu nehmen.

Bayerisches Staatsballett „Portrait Wayne McGregor“, Premiere am 14. April, weitere Vorstellungen am 28. April, 11., 18. Mai, 5., 12., 23. Juni und 10. Juli im Nationaltheater München