Das Hamburg Ballett gastierte mit „Die Möwe“, einem Ballett aus dem Jahr 2002, in Wien. Für seine Version des Dramas von Anton Tschechow wählte Choreograf John Neumeier hauptsächlich Musik von Dmitri Schostakowitsch, die vom Wiener KammerOrchester unter der Leitung von Markus Lehtinen interpretiert wurde. Dass auch Neumeier, der gerade seinen Vertrag bis zu seinem 50. Jubiläumsjahr 2023 als Hamburger Ballettchef verlängert hat, choreografisch irren kann, wurde an diesem Abend bald klar.
Nun ja, John Neumeier wollte unbedingt Tschechow vertanzen und fand in „Die Möwe“ einen, seiner Meinung nach, geeigneten Stoff. Natürlich, so betont er in Interviews und Programmnoten, will er nicht das Drama in Tanz übersetzen, sondern … Ja, was eigentlich? Denn das Ballett heißt wie Tschechows Stück, und es sind die Charaktere daraus namentlich besetzt.
Dass Neumeier die Geschichte aus dem Schauspiel- ins Tanzmilieu übersetzt liegt auf der Hand. Die alternde Schauspielerin Irina Arkadina ist also eine Primaballerina am Kaiserlichen Theater, ihr Sohn, der Schriftsteller Konstantin "Kostja" Trepljow wird bei Neumeier zum Choreografen, ebenso wie ihr Freund Boris Trigorin. Nina Saretschnaja, Kostjas und später Trigorins Geliebte, ist Tänzerin. Auf dem Gut seines Onkels zeigt Kostja seine neue Choreografie „Die Möwe“ mit Nina in der Hauptrolle.
Entgegen jeglicher dramaturgischer Vernunft hat Neumeier aber auch noch die anderen Figuren der Tschechowschen Welt eingebaut: Den Gutsverwalter Ilya Samarayev und seine Frau Paulina, die aber den Arzt, Jewgenij Dorn liebt; Mascha, des Gutsverwalters Tochter, die in Kostja verknallt ist, selbst aber von dem Lehrer Semjon Medwedenko hofiert wird. Als wäre das komplexe Beziehungsgeflecht nicht schon verwirrend genug, thematisiert Neumeier nun auch noch den künstlerischen Generationenkonflikt, der gleichzeitig auch ein persönlicher zwischen Mutter und Sohn ist. (Freilich drängt sich dieses Narrativ geradezu auf, da „Die Möwe“ bei seiner Uraufführung im Alexandrinski-Theater durchfiel und erst bei der Inszenierung an Stanislawskis reformatorischen Moskauer Künstlertheater zum Erfolg wurde.)
Kostja choreografiert also in eckig-futuristischer Manier, Trigorin setzt auf Revue und altbackenes Ballett. Beide Stile werden von Neumeier persiflierend in Szene gesetzt. Doch der Meister symphonischer Ballette ist näher am Pathos als an der Satire. Das wirkt bemüht bis verkrampft, teilweise mit sehr plastischen Bildern. Die zweieinhalb Stunden aber dehnen sich. Auf der Strecke bleibt dabei Neumeiers eigene, neoklassische, fließend-musikalische Tanzsprache, die er zugunsten der Erzählung weitgehend vernachlässigt. Ein Teil des Publikums optierte daher auch für eine Verkürzung auf den ersten Akt bis zur Pause.
Daran konnte auch die hochkarätige Besetzung nichts ändern: als Gast tanzte die Ausnahmeballerina Alina Cojocaru. Der übertrieben expressive Gestus der Rolle der Nina ist der Ersten Solistin des English National Ballet offensichtlich fremd, hIngegen bezauberte sie mit einem leichtfüßigen Polka-Solo. Artem Ovcharenko (vom Bolshoi Ballett) gab den mal verträumt Papiervögelchen faltenden, mal zornigen und am Ende bis zum Selbstmord verzweifelten Kostja. Dario Franconi war ein eleganter Trigorin, Anna Laudere gab die exaltierte Ballerina Irina. Carolina Agüero und Edvin Revazov überzeugten als Mascha und Medwedenko.
Hamburg Ballett: "Die Möwe" am 7. Mai 2018 im Theater an der Wien