Festwochen-Intendant Tomas Zierhofer-Kin rückt mit seinem Programm verstärkt (Club)-Musik, Visual Arts und Performance in den Fokus. Aber auch drei Tanzproduktionen werden zu sehen sein – zwei von Boris Charmatz und eine von Gisele Vienne. Die langjährige Ausrichtung des Programms, auf international akklamierte Theater- und Tanz-Produktionen ebenso wie zeitgenössische Opern, hat andere Akzente bekommen. Als Zugeständnis an die Kritik im vergangenen Jahr weist das Programm heuer wieder ein paar Gustostückerln der großformatigen Theaterkunst auf.
Erstmalig in Österreich zu sehen war eine Arbeit von Ersan Mondtag, der im Jahr 2016 vom Fachmagazin Theater Heute zum Nachwuchsregisseur des Jahres gekürt worden war. Seine Inszenierung von Aischylos, „Die Orestie“, handelt vom Übergang der von Rache befeuerten Gewaltherrschaft zur Demokratie – der Rechtsprechung durch das Volk. Der deutsche Regisseur mit türkischen Wurzeln blickt aber auch auf die Schwachstellen der demokratischen Ordnung, die heute sichtbar werden – etwa die wachsende Zahl der vom Wohlstand Abgehängten. Der Regie-Jungstar spielt mit groteskem Humor und sprachlicher Finesse seiner herrlichen Schauspieler des Thalia Theaters in Hamburg und einem ebenso herrlichen Gesangschor (Musik: Max Andrzejewski). Paula Wellmanns spektakuläre Bühne holt die antike Tragödie aus der Historie in die Gegenwart, indem aus einem antiken Setting ein Bühnenabbild eines Sozialwohnbaus wird. Hinter diesen Wänden wird das Hackbeil geschwungen, hier bekommt auch das zarte Gebilde der Demokratie Risse.
Das Tier Mensch
Anstelle von Menschen bevölkern Ratten die Bühne vor einem dreistöckigen Prospekt mit antiken Figuren, sie haben spitze Nasen, Barthaare und rosa Brillen. Zumeist erzählen sie chorisch von der blutigen Geschichte von Agamemnon und seiner Frau Klytaimestra, die ihn mit Hilfe ihres Geliebten Aigisth ermordet. Es ist eine Geschichte von Mord, Blutschuld und Rache, die sogar die antike Fassade unter krachendem Getöse in sich zusammenfallen lässt. Dahinter – auf einer Art dreistöckiger Garagenauffahrt, die nun sichtbar wird - singt mehrstimmig ein eindrucksvoller Chor. Wenn sich die Drehbühne des Theaters an der Wien langsam um ihre Achse zu drehen beginnt, wird an der Rückseite ein Plattenbau-Gebäude sichtbar. Auf bunten Balkonen stehen die Ratten-Menschen und aus den Fenstern blicken sie auf einen Vorplatz - aus einer stilisierten Antike wird eine filmisch stilisierte Gegenwart.
Von der Blutrache zur Demokratie
Ersan Mondtag schafft mittels Humor, filmischer Verfremdung und grotesker Komik Distanz zum Geschehen. Im zweiten Teil der Tragödientrilogie setzt sich die Blutrache fort: In großen, filmischen Szenen tötet Agamemnons Sohn Orest, aufgehetzt von seiner Schwester Elektra und dem Rachechor, seine Mutter und ihren Geliebten mit einem Hackbeil. Im finalen Teil flieht Orest vor den Rachegeistern zur Göttin Athene. Diese beruft ein Gericht ein, in dem sie statt auf den Richtspruch der Götter auf eine demokratische Abstimmung durch die Bürger setzt: „Seid Bürger mit Verantwortung“, sagt sie zum Publikum. Die Auszählung der Stimmen bringt einen Gleichstand und Athene verwendet ihre Stimme für einen Freispruch, damit der Gewaltkreislauf unterbrochen wird. Der Kreislauf um Mord und Rache ist damit nur vorerst gestoppt, im Hintergrund der Bühne schon zweifelt die aufhetzte Meute an der Entscheidung.
Gebrechlich ist das Gebilde der Demokratie, scheint Ersan Mondtag mit seinem großartigen Ensemble des Hamburger Thalia Theaters in seiner Inszenierung zu warnen, wenn er über den versöhnlichen Schluss der „Orestie“ hinausgeht. Die Abgehängten und die Volksverhetzer stehen schon hinter den Fassaden der Sozialghettos bereit.
Wiener Festwochen 2018, Ersan Mondtag: „Die Orestie“, 23. Mai 2018, Theater an der Wien, www.festwochen.at