Die Nachricht schlägt wie eine Bombe ein: „Martin Schläpfer zum neuen Direktor des Wiener Staatsballetts berufen.“ Zur Saison 2020/21 verliert Deutschland einen seiner prägenden Ballett-Kunst-Erfinder an die österreichische Kulturmetropole. Dort: ein schwieriges, zutiefst klassisch-definiertes, zugleich aber spannendes Pflaster. Das hätte man nicht unbedingt erwartet – kurz nach der Premiere seines ersten abendfüllenden Handlungsballetts auf die denkbar populärste Vorlage: „Schwanensee“.
Andererseits: wann, wenn nicht jetzt? Nur an einem Haus des Kalibers der Wiener Staatsoper – mitsamt einem der größten Tanzensembles der Welt – kann sich der Chefchoreograph und Künstlerische Leiter des Balletts am Rhein noch einmal selbst neu herausfordern, seinen Anspruch an ein zeitgenössisches Ballett mit originell- bedeutungsaufgeladener (Spitzen-)Tanztechnik noch weitertreiben.
Vorerst jedoch setzt der gebürtige Schweizer die Zusammenarbeit mit seiner außergewöhnlichen Kompanie in Düsseldorf und Duisburg fort. Ohne sie, ohne das lange intensive Zusammenwachsen und die famose Entwicklung der Truppe zuerst in Mainz, dann seit 2009 in der Landeshauptstadt von Nordrheinwestfalen, würde Schläpfers „Schwanensee“ – partiell runtergebrochen auf die Form eines dichten Kammerballetts – wohl nicht derart zünden. Er beweist damit ebenso große Verbundenheit zur Tradition des Handlungsballetts wie den Drang zur eigenen Inhaltsfindung und Handschrift.
Es gibt keine bilderbuchhaften Kulissen, das Ballett schält sich vielmehr nahezu requisitenfrei anhand fulminant tanzender und handlungspräsent auftretender Figuren aus dem Schwarz bzw. einem fantastischen (N)Irgendwo des Bühnenraums heraus. Man erlebt keine Formationsorgien einer Masse weißer Schwäne. Odettes fiese Gegenspielerin Odile (temperamentvoll aufgeladen: Camille Andriot) ist leibhaftig gewordene Zaubervision: eine vorgegaukelte Illusion, die Schläpfers Aufhebung der legendären Besetzung als Doppelpartie sinnhaft begründet.
Lediglich 13 verzauberte Schwanenwesen flankieren Odette. Die Rolle erfüllt am Premierenabend (8. Juni) hinreißend glaubhaft-anders die muskulöse, reife, unglaublich ausdrucksstarke Marlúcia do Amaral. Sie bleibt Schläpfers einziger Schwan in Spitzenschuhen. Von Siegfrieds Armen in die Luft gehoben, durchfährt ein Schauer Liebesenergie ihren Körper, der sogar das Publikum elektrisiert. Wow, für so eine neue Interpretationsfacette!
Die großväterlich beschützende Bezugsperson an do Amarals Seite verkörpert Boris Randzio grandios bescheiden-verhalten, aber hilflos gegen die Macht des Bösen. Nachts auf Zeit in barfüßige Frauen zurückverwandelt, veranschaulichen einzelne von Odettes Begleiterinnen ihre Sehnsucht nach Erlösung. Sie leiden unter der tyrannischen Aufsicht des düsteren Quartetts Yuko Kato, So-Yeon Kim, Tomoaki Nakanome und Eric White. Später klinken sich diese in den bei Schläpfer ganz anders gearteten, regelrecht hexenhaften „Tanz der kleinen Schwäne“ ein.
Alle vier sind geflissentlich-gerissene Handlanger einer zerstörerischen Zauberin, die zugleich Odettes Stiefmutter ist. Young Soon Hue verleiht dieser mit sprechend-agilem Körper wunderbar die Züge einer üblen Schlange. Ihr Partner Rotbart, interpretiert von Sonny Locsin, bleibt zunächst eine Gestalt im Hintergrund. Doch im 3. Akt geht ihm Marcos Menhas sympathischer, an sich frohsinniger Siegfried – das ist unausweichlich – auf den Leim.
Technisch werden atemberaubende Hürden genommen. Wie selbstverständlich unterbrechen – typisch Schläpfer – geflexte Füße in Drehungen und Sprüngen bzw. Ecken und Kanten sporadisch die klassische Linienführung der Tänzerinnen und Tänzer. Bewegungstemperament und Gesten charakterisieren jede seiner Figuren. So stoppt Siegfried mitten in einer lebhaften Variation unter Freunden abrupt mit eingeknickten Beinen und schlaffen Armen, hoffnungslos betrübt und auf einen Schlag gedankenversonnen. Was für ein raffinierter, choreografisch ganz aus dem Inneren der Person heraus gelöster Stimmungswechsel.
Schläpfers „Schwanensee“ wird mit einem ausgelassenen Tanzfest eröffnet. Es geht mitunter zünftig zu. Der Prinz feiert seinen Geburtstag mit Freunden und einfachen Leuten. Heiraten aber, um die Dynastie zu erhalten, will er nicht. In der kargen, zurückgenommenen Ausstattung von Florian Etti symbolisieren riesige, motivleere Bilderrahmen den dynastischen Druck, der auf dem Thronfolger lastet.
Und dem ist er auch in jeder Begegnung mit seiner Mutter (Virginia Segarra Vidal) ausgesetzt. Zur Verlobungsparty im 3. Akt hat diese drei selbstbewusste Prinzessinnen geladen. Keine zögert, Siegfried in ein Duett zu verwickeln. Der allerdings hat sein Herz längst Odette versprochen, die im mysteriösen Waldreich festgehalten wird. Nur die trügerisch-schöne Odile hat bei ihm eine Chance.
Gestrichen wurden die vor Siegfrieds fatalem Liebesverrat üblichen Nationaltänze. Als reine Divertissement-Nummern hätten sie den Verlauf von Schläpfers Erzählfluss nur gebremst. Ursprünglicher Anstoß, sich Tschaikowskys Repertoireknüller vorzunehmen, war für den Choreografen „Wucht und Kraft“ der musikalischen Gesamteinspielung Seiji Ozawas mit dem Boston Symphony Orchestra. Beide Qualitätsmerkmale zeichnen jetzt auch Martin Schläpfers eigenwillig-ungewöhnlichen Wurf aus.
Während Alexei Ratmansky 2016 für Zürich eine beispielhafte Rekonstruktion des Balletts nach Marius Petipas und Lew Iwanows St. Petersburger Aufführung von 1895 präsentierte, setzt sich die Düsseldorfer Neukreation bewusst und denkbar weit davon ab. Sie basiert auf Tschaikowskys Ur-Partitur aus der Entstehungszeit des Werks 1875 bis 1877 und folgt dem Originallibretto. Ergebnis: inhaltlich viel neue Substanz und zahlreiche „Umkrempelungen“. Enttäuschte Erwartungshaltungen bleiben da nicht aus.
In solcher Klangklarheit und ausgewogener Brillanz wie von den Düsseldorfer Symphonikern unter Leitung von Generalmusikdirektor Axel Kober hat man die Ohrwürmer dieser Ballettmusik selten gehört. Für Schläpfer, der bestimmte Passagen in Stille tanzen lässt, wird das musikalische Kontinuum zum Ende hin immer wieder angehalten. Odette zerbricht. Ihr Leben erlischt in den Armen des reumütig zurückgekehrten Geliebten. Den toten Körper in den Armen, rennt Siegfried davon. Zurück bleibt seine Mutter als gebrochene Frau. Erstaunlich gelungen, was sich vielleicht nicht jedem auf Anhieb erschließen mochte.
Ballett am Rhein: „Schwanensee“, Premiere am 8. Juni 2018 im Opernhaus Düsseldorf. Vorstellungen in dieser Spielzeit: 11., 12. Und 15. Juli