Der türkische Autor Nâzim Hikmet, gleichermaßen verfolgter Revolutionär wie feinsinniger Lyriker, verfasste eines seiner epischen Meisterwerke als politisch Verfolgter im Gefängnis: „Menschenlandschaften“, entstanden in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, beschreibt mit kritisch vorbehaltlosem Blick sein Land in den 40er-Jahren und wird nun – endlich – nicht nur mit Erfolg (vor allem außerhalb Europas) wahrgenommen, sondern insbesondere auch von Jungen gelesen.
Der junge belgische Choreograph, Kurator und Autor Michiel Vandevelde (*1990) lernte diesen Text als 16-Jähriger kennen. Angetrieben durch sein in den letzten Jahren sich vertiefendes Interesse am Mensch-Sein, widmete er sich neuerlich Hikmets fünf Büchern; diesem lyrischen Epos aus kurzen, nebeneinandergestellten wie auch verwobenen Naheinstellungen auf kriegsgeprägte Menschen, die für ein Ganzes einer Epoche, für das Mit- und Gegeneinander und für menschliches Leid allgemein stehen. Ob die Text-Hinweise und Bezüge zum Unabhängigkeitskrieg der Türkei in den 20er Jahren erkannt und verstanden werden, ist kaum von Bedeutung im Vergleich zu dem, was in Gegenwärtigem ganz allgemein und atmosphärisch aus einer Vergangenheit nach-wirkt.
Der aus Buch 1 präsentierte Text – einerseits eingespielt in Englisch über Lautsprecher oder vorgetragen durch die Tänzer, und andererseits in Deutsch und Türkisch auf mehrere Leinwände rund um das am Boden sitzende Publikum projiziert – ist überaus dicht; so dicht, dass er beim alleinigen Lesen in der Ferne bleiben oder bald in diese entrücken mag. Das von unterschiedlichen Stimmen präsentierte Wort bewirkt jedoch bereits um einiges mehr an lebendiger Nähe; das (wiewohl von nur wenigen verstandene) Türkische stellt (nichtsdestotrotz) einen Bezug zum konkreten Ort des Geschehens her, das Englische erweitert ins aktuell Globale.
Und dann, dann sind da noch die fünf TänzerInnen, die sich durch das Publikum bewegen, also greifbar nah und konkret. Nichts ist ihnen ferner als den Text in Bewegung zu „transkribieren“. Vielmehr betten sie die gehörten Inhalte in ein gleichermaßen abstraktes wie lebendiges Gebilde aus Raum und Zeit, das sie aus ihren bedeutungsfreien Bewegungen in extremer Zeitlupe ins Unendliche flechten. Unterstützt wird die Wirkung ihres atmosphärisch fließenden Bewegungsgemäldes durch das zumeist zurückgenommene Licht im Raum, das die Gestalten grundsätzlich und zum Teil im Gegenlicht schemenhaft erscheinen oder in kurzzeitiger Dunkelheit ganz verschwinden lässt. Das lässt den schweifenden Gedanken, den individuellen Assoziationen und Erinnerungen der Rezipienten noch mehr persönlichen Raum. Lässt möglich werden, dass das gehörte Wort, die weitgehend unbekannten Inhalte in all ihrer direkten und indirekten Unerträglichkeit erfahrbar werden.
Vandevelde und seinem Dramaturgen Kristof van Baarle hat mit dieser minimalistischen performativen Vermittlung eine außergewöhnlich gelungene Verbindung mit verbal-poetischer Sichtbarmachung dramatischer Inhalte erreicht, ihre Wirkung vergrößert.
Michiel Vandevelde „Human Landscapes – Book I” am 24.September 2018 (Uraufführung am 22. September 2018) im Orpheum Extra als Auftragsproduktion von steirischer herbst