Die Initiative Raw Matters ermutigt KünstlerInnen ihre Arbeitsprozesse vor Publikum zu zeigen. Nun gastierte das Programm nach sieben Jahren das letzte Mal im Schikaneder-Kino Wien. Auch dieses Mal war es ein Abend mit vier sehr unterschiedlichen Arbeiten: einer inklusiven “Reportage“ von Katrin Wölger, einem experimentellen Kurzfilm von Andrea Vezga, einem Spiel mit Tanz, Wort und Sinn von Anatoli Vlassov und einer arabisch-westlichen Tanz-Performance von Soraya Leila Emery.
Die 1967 in Schladming geborene Performance-, Video- und Aktionskünstlerin Katrin Wölger brachte gemeinsam mit ihrer Tochter Felicitas mit „SOMOM 5 („Songs of Myself or (M)other“ 5)“ die fünfte Folge einer jährlich präsentierten Reihe ins Schikaneder. Das wie Stegreif-Theater daherkommende Stück beginnt mit zwei sich bewegenden gemusterten Säcken, die sich, nach einer Abstimmung, wer wohl wie beginnen solle, als übergroße Kleider entpuppen. Narben werden gezeigt. Bilder aus dem Spital, aufgenommen vor einer Hirnschrittmacher-OP der Tochter, und das im Hintergrund laufende Video einer Busfahrt über die Autobahn in die französische Provinz werden mit einfach(st)en Worten kommentiert. Die Tochter, schwer verständlich ob ihrer Behinderung, ist über das permanente Umfallen ihrer Mutter erst hoch erfreut (sie lacht so herzerfrischend), dann wütend. Viele Hunde, hinter einem Zaun gefangen, singen Klagelieder. Mit seinem vollkommen unartifiziellen und gewollt unprofessionellen Duktus endet das Stück auch: Die Mutter bietet dem Publikum (echtes!) Hirn im Glas und Herz auf Folie an, zum Mitnehmen. Falls jemand einen Hund hat. Anti-intellektuell und subversiv ist diese Arbeit, ein Plädoyer für den ursprünglichen Menschen.
Andrea Vezga, geboren 1991 in Venezuela, studierte internationale Angelegenheiten und Tanz in Costa Rica. In ihrem in schwarz-weiß gedrehten Kurzfilm „Ectopic Bodies“ setzt sie Körper neu zusammen. Drei Tänzer*innen lassen nur Gliedmaßen und Köpfe sehen, manchmal auch Torsi, die Dali-inspiriert miteinander spielen. Wir sehen surreal anmutende Installationen aus menschlichen Körperteilen, varianten- und phantasiereich choreografiert und fotografiert. Dekonstruktion im Wortsinne, die den Körper als „potentiell obsolete Ware“ (Andrea Vezga) inszeniert.
Ein höchst vergnügliches Spiel mit Tanz, Worten und Bedeutungen präsentierte der seit 25 Jahren in Paris lebende Russe Anatoli Vlassov, Tänzer, Choreograf, Videokünstler und Forscher, mit seinem Stück „Chairs Mots“. Phonesia nennt er sein seit 2012 entwickeltes performatives Konzept, mit dem er Sprache phonetisch aufbricht, sie tanzt und die somit hinterfragten Bedeutungen visuell und physisch erfahrbar macht. Nach einer Einführung in sein Konzept mit Beispielen vertanzter Sprache, auch von zugerufenen Worten, war das Publikum aufgefordert, erst mit Vlassov mitzutun und sich schließlich ohne ihn, der sich in den Saal zurückgezogen hatte, auf die Bühne zu begeben. Es funktioniert. Es macht Spaß beim Zusehen und selber tun und induziert neue Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungen.
Soraya Leila Emery, eine 1993 in der französisch-sprachigen Schweiz als Tochter Schweizer und marokkanischer Eltern geborene Tänzerin, Tanz- und Hatha-Yoga-Lehrerin, stellt in „Kan Ya Makan“ („Es war einmal ...“) eine sich wandelnde Frau auf die Bühne. Eine arabische, die ihr zuweilen maskenhaft lächelndes Gesicht mit Schlamm bedeckt, auch Hals und Dekolleté, dann zu arabischer Musik tanzt. Stumme Schreie. Sie entledigt sich des schenkellangen Oberteiles, tanzt, nun bauchfrei, ekstatisch zu treibenden westlichen Beats. Sie hält inne, schnappt mit Pausen nach Luft, um danach Kartoffeln schälend in prasselnder Notebook-Kaminfeuer-Idylle zu sitzen, nachdenklich, ent-täuscht und fast leer ins Publikum blickend. Und dann bietet sie Kartoffeln feil ...
Eine selbstbewusste, soziale und gesellschaftliche Grenzen überschreitende und damit sich selbst und ihr Umfeld beschmutzende junge arabische Frau macht sich auf den Weg in die westliche Werte-Welt. Ist das eine Befreiung? Sind Frauen hier glücklich? Ein (feministisches) Märchen ohne Happy End. Diese in nur fünf Tagen entstandene Arbeit beeindruckt durch die tänzerische Leistung und verstört wegen des bitteren Nachgeschmackes.
Raw Matters #67: SOMOM 5: Katrin und Felicitas Wölger; ECTOPIC BODIES: Konzept, Choreografie, Regie: Andrea Vezga; Tanz: Andrea Vezga, Dorian Kaufeisen, Annica Ivanica; Musik: Marius S. Binder; CHAIRS MOTS: Konzept, Performance: Anatoli Vlassov; KAN YA MAKAN: Konzept, Choreografie, Performance: Soraya Leila Emery. Aufgeführt am 19.11.2018 im Schikaneder Wien.
Raw Matters Large & Long Special findet am 12. Dezember im Arbeitsplatz Wien statt. Die nächsten Termine: 21. Jänner, 19. Februar 2019 im Spektakel. Dafür sind die Bewerbungen noch bis 8. Dezember 2018 offen.