An aufeinanderfolgenden Tagen boten die Wiener Festwochen zwei Produktionen, die mit „Tanz, Musik“ getaggt waren. Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas mit „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ und Marcelo Evelins „Matadouro live“. Und hier entpuppte sich die Tücke von verkürzten Zuschreibungen. Denn sie waren das Einzige, was diese beiden Stücke gemeinsam hatten.
1 Orchester, 16 Tänzer, 1 Hund und das Glück
Anne Teresa De Keersmaeker choreografiert Bachs Brandenburgische Konzerte. Alle sechs. Zwei Stunden lang ziehen uns vier Tänzerinnen, zwölf Tänzer und das B’Rock Orchestra unter der Leitung von Amandine Beyer in einen musikalisch-kinetischen Sog, und bereiten dem Wiener Festwochen-Publikum im Theater an der Wien eine glückbringende Wellness-Kur für alle Sinne.
Anne Teresa De Keersmaeker ist eine der wenigen zeitgenössischen ChoreografInnen, die eine eigenständige Tanzsprache kreiert haben. Die Auseinandersetzung mit Alltagsbewegungen, die TanzschöpferInnen seit den 1960er Jahren verfolgen, hat die belgische Choreografin seit ihren Anfängen konsequent verfolgt und zur ästhetischen Vollendung gebracht. Es begann mit „Rosas danst Rosas“, dem Stück, das den internationalen Durchbruch brachte. Waren es dort feminine Gesten junger Mädchen, wie das Zurückstreichen von Haaren, das Glattstreichen von Röcken oder das Zurechtrücken von BHs, die De Keersmaeker in eine streng rhythmische Struktur fasste, so sind es bei „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ aus dem Jahr 2018 Schritte, kleine Hüpfer und leichtfertige Drehungen, die den choreografischen Fluss bestimmen. Die Struktur gibt Bachs Musik vor, mehr noch, sie wird in den Bewegungen gespiegelt und sichtbar gemacht. Wendig, flink und verspielt kippen die TänzerInnen aus der Balance, um sich dann wieder aufzufangen und erneut einen Schritt hinzutupfen. In immer neuen Konstellationen definieren sie den Raum, setzen Marker, die ebenso schnell wie die musikalischen Noten verschwinden, um sich woanders wieder aufzubauen.
Die choreografische Architektur füllt die Bühne mit Linien, Kreisen, Drehungen und mit Begegnungen. Die komplizenhaften "Absprachen" zwischen den TänzerInnen deuten auf ein verstecktes Kommunikationssystem, das dieses unglaublich komplexe und doch so einfach erscheinende Zusammenspiel bestimmt. Zwischen den einzelnen Konzerten, während die Instrumente nachgestimmt werden, erscheint Tänzer Nr. 17 mit einer Tafel, auf der die Tonart angegeben wird. In einer Szene hat der Hund Kanga seinen großen Auftritt. Er versucht mit dem Rhythmus der TänzerInnen Schritt zu halten, fand dann aber doch etwas oder jemanden in der Gasse viel interessanter – kleine Ablenkungen dürfen eben durchaus sein. Denn Kangas Teilnahme ist mehr als ein schelmischer Gag, der „Störfaktor“ fügt sich nämlich harmonisch in die Chorgeografie ein, und macht das "Chaos in der Ordnung", das De Keersmaeker in Bachs Musik wahrnimmt, deutlich.
Dieser Abend wird allein von den KünstlerInnen getragen. Die TänzerInnen auf der Bühne und MusikerInnen im Orchestergraben verbreiten zwei Stunden lang Lebenslust und gute Laune. Sparsam das Bühnenbild: ein Rundbogen im Hintergrund, der im Licht einer spezielle Beleuchtungskonstruktion Farbe und Oberflächenstruktur verändert (Bühne und Licht: Jan Versweyveld). Nichts lenkt von der Bewegung ab: Ann de Huys hat für die TänzerInnen, die durchwegs in einem hellen, freundlichen Licht agieren, einfache schwarze, teils durchscheinende Kostüme entworfen.
„Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ sind eine Hymne an die musikalische Choreografie, die mit einfachen Elementen Momente höchster Virtuosität zaubert. Die ZuschauerInnen haben in ihren Sitzen mitgetanzt, die Spiegelneuronen haben die Bewegungen in unseren Körpern freigesetzt. Die Freude darüber manifestierte sich lautstark in jubelndem Applaus.
1 Streichquintett, 8 Körper und Hundegebell
Capoeira, der brasilianische Kampfsport, hat seinen Ursprung in der Sklaverei. Auf Sklaven, die von ihren Herren geflüchtet waren, wurden Hunde gehetzt. Die Sklaven trugen an ihren Beinen Messer, mit denen sie sich gegen die Tiere verteidigen. So lautet eine Legende über die Entstehung von Capoeira. Sie fiel mir bei „Matadouro live“ des brasilianischen Choreografen Marcelo Evelin wieder ein, denn während des ganzen Stückes war Hundegebell zu hören. Wahrscheinlicher ist aber, dass das Gebell sich auf das ländliche Ambiente des Stückes, den Sertão bezog.
Evelin ist ein Konzeptchoreograf. Das heißt, dass sich das Bühnengeschehen nicht per se, sondern über dessen ideellen Background erschließen lässt. In „Matadouro live“ rennen acht nackte, bunt maskierte Menschen unterschiedlicher Statur eine Stunde lang im Kreis, während das Hugo Wolf Quartett Franz Schuberts Quintett in C-Dur spielt. Was kraftvoll mit lauten Trommelschlägen im völlig abdunkelten Saal beginnt, weicht bald einer Beliebigkeit. Man könnte die Aktion auch als eine Parabel auf die Narretei von City Marathons interpretieren, doch Evelin hat ein sehr ernsthaftes Anliegen, wie er in einem Interview im Programmheft erklärt: "Matadouro live" ist die Chorografie einer Schlacht. Er bezieht sich auf Euclides da Cunhas Roman „Krieg im Sertão“ und – in einem Nebenstrang – auf Giorgio Agambens Begriff der „tötbaren“ Körper von Auschwitz. Daher die flachen Messer, die an die Körper geklebt sind. Schuberts Musik ist für den Choreografen eine „Musik des Todes“, und hat, nachdem der Komponist Österreicher war, einen Bezug zu Hitler. Er bietet Erklärungen zur Nacktheit und zum Kreis als choreografische Struktur. Die bunten Masken haben hingegen nur die Funktion die Gesichter der Akteure zu verdecken.
Die Umsetzung des intellektuellen Unterfutters auf der Bühne bringt dazu keine wesentlichen Einsichten. Evelin wollte mit dem unermüdlichen Laufen wohl den physischen Zustand der Ausweglosigkeit evozieren, doch die Distanz zum Publikum blieb unüberwindbar. Die niedlichen, fröhlichen tänzerischen Einlagen und Gesten einzelner Tänzer und die lächerlichen Masken verharmlosten die Anstrengung. Und Schuberts meisterlich interpretierte Musik schwebte als nostalgischer Klangteppich darüber.
Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas "Die sechs Brandenburgischen Konzerte" am 4. Juni im Theater an der Wien. Marcelo Evelin "Matadouro live" am 5. Juni in Halle G, Mumseumsquartier im Rahmen der Wiener Festwochen