Missverständnis Leben. Niedergebügelt wird, wer aus der Reihe tanzt. Dabei macht gerade der Unterschied die Welt und ihre Menschen interessant. Nach „minor matter“ im vergangenen Sommer gastierte Ligia Lewis nun mit ihrer aktuellen Produktion „Water Will (In Melody)“ im Rahmen der internationalen Wochen gegen Rassismus erneut an den Münchner Kammerspielen.
Zu Anfang herrscht diffuse Nebelstimmung auf der Bühne von Kammer 2. „Nicht einmal die Wildschweine sieht man“, raunzt ein Zuschauer, der sich augenscheinlich woandershin wünscht. Man hört leises Gezwitscher. Dann erscheint eine unnatürlich kantig-verbogene Frau (Dani Brown) auf der Bildfläche. Sie presst die Worte „once upon a time“ („es war einmal…“) hervor und twisted wie Rumpelstilzchen in Zeitlupe hin und her. Am Ende ihres Auftaktsolos zieht sie den Vorhang hinter sich auf. Der Boden ist schwarz und glänzt wie blankpoliertes Eis.
Browns geisterhaftes Gebaren soll in körperlicher Drastik die unbarmherzige Grausamkeit des schaurigen Kurzmärchens „Das eigensinnige Kind“ der Brüder Grimm veranschaulichen. So weit, so gut. Die Mär vom Tod des willensstarken Mädchens, das sein Ärmchen noch aus dem Grab heraus streckt, bis die Mutter mit der Rute draufschlägt, wird zum choreografisch starken Motiv. Und als inhaltlicher Anstoßgeber später noch ein zweites Mal bemüht, wobei Susanne Sachsse als schräges Teufelsweib in schwarzem Latexmini den Text stimmlich und tänzerisch in eine völlig andere Bildhaftigkeit überträgt.
Da sind wir schon mitten drin in einem Gruselkabinett der Verfremdung. Die Protagonistinnen des 70-minütigen Spukmärchens: herrlich defekte Barbiepuppen, die zu Thomas Tallis՚ 40-stimmiger Solo-Mottete „Spem in Alium“ zunehmend die Kontrolle über ihr Tun, ihre Bewegungen und Emotionen verlieren. Gliedmaßen, Gesichtszüge und Gefühle verselbständigen sich. Liebe und Hass verschmelzen in einer Orgie permanenten Entgleitens. Jede Empfindung: extrem, durchlässig und unstabil. Aber was an inhaltlich Greifbarem bekommt das Publikum tatsächlich geboten?
Nur Titilayo Adebayos melodramatisch aufgeladene stumme Rolle, ihre pantomimischen Gesten und Grimassen im weiten Hemdkleid mit Bowler-Hut erinnern an die clownesk-groteske Tradition einstiger Blackface-Shows. Doch ob schwarz oder weiß – die Frage nach Abstammung und Hautfarbe der vier Performerinnen (darunter ungemein ausdrucksstark auch Ligia Lewis selbst, die in der Dominikanischen Republik geborene, in Florida aufgewachsene und in Berlin und New York lebende Tänzerin und Choreografin) gerät ins Abseits. Hier handelt ein sich zwischen Mord, Erniedrigung, Missbrauch und Vergewaltigung vor Schmerzen windendes, vor Sarkasmus krümmendes Quartett Sexismus-Aspekte ab.
Ausgehend vom weiblichen Zwiespalt aus Selbstbestimmung und Fremdsteuerung entrollt sich ein ebenso fantastisches wie kryptisches Kaleidoskop an Happenings. Verzichtbar, weil keineswegs neu: der zweite Teil, in dem die formidablen Tänzerinnen sich übereinander schichten, zweideutige Berührungsarrangements eingehen und schließlich auf ihren Hintern über glitschigen Grund schlittern. Eine zusätzliche ironische Reflexionsebene hätte dem Stück stattdessen gut getan. Was zum Schluss einzig noch berührt sind die Spuren am Bühnenboden. Flüchtige Hinterlassenschaft von Leben in einer dünnen Schicht Endzeit-Sprühnebel.
Ligia Lewis „Water Will (In Melody)“ am 13. März in den Münchner Kammerspielen (Kammer 2) im Rahmen der „Internationale Wochen gegen Rassismus“ in München (11.-24. März)