Zum 28. Mal fand das Internationale Tanzfestival in Graz statt, das auch heuer wieder mit einer Mischung von Produktionen völlig unterschiedlicher Tanzrichtungen aufwartete. Die künstlerische Leiterin Ursula Gigler-Gausterer ist bemüht, sowohl internationale als auch österreichische Gigs nach Graz zu holen und bietet ihrem Publikum auch die Möglichkeit, den in Graz beheimateten Tanznachwuchs kennenzulernen.
Unentschlossene hatten wie immer die Möglichkeit, bei der Eröffnungsveranstaltung am ersten Abend Kostproben der Performances anzusehen, um dann je nach Gusto noch gezielt Karten erwerben zu können.
„The Storm“ – James Wilton Cie
Die James Wilton Cie, in Österreich schon mehrfach mit neuen Produktionen vertreten. Im Vorjahr landete er mit „Leviathan“ in Graz einen Publikumserfolg. Dieses Mal war es kein literarischer Stoff, sondern die Herausforderung, psychologische Vorgänge bei einer Traumaverarbeitung tänzerisch sichtbar zu machen. Dafür hatte er sich Dr. David Belin, Lecturer in Verhaltens- und Neurowissenschaften an der Cambridge University zur Beratung an seine Seite geholt.
In „The Storm“ erzählt Wilton mit seinem Ensemble eine Geschichte, die symbolisch für all jene Schicksalsschläge steht, welche Menschen treffen und aus der Bahn schleudern können. In seinem Stück geht es darum, wie diese sich in der Zeit der Krise benehmen, welche Auswirkungen das auf die Umgebung hat und wie sie wieder zu sich finden und letztlich auch in der Gesellschaft wieder einen Platz einnehmen können.
Dabei sind es immer wiederkehrende Gesten, die beredt von Freud und Leid erzählen. Wie jenes gemeinsame Armschaukeln des Ensembles nach vor und zurück, bei welchem in der Anfangsszene die Hände der Hauptfiguren dabei fröhliche Ausfallbewegungen machen. Oder jenes Handzittern, das Sarah Jane Taylor nach ihrem Zusammenbruch immer wieder heimsucht, so sehr sie sich auch dagegen zur Wehr setzt. Norikazu Aoki hingegen möchte sichtlich nichts mehr, als die Vergangenheit wieder zurückholen. Immer wieder erscheint ein runder, orangefarbener Lichterkreis, um den die fröhliche Gesellschaft anfangs saß und miteinander plauderte. Eine Erinnerung, die er nicht aus seinem Gedächtnis löschen kann, sosehr ihn Wilton, der die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen erkannt hat, auch davon abhalten möchte. In einem beeindruckenden Solo gelingt es Norikazu, eine schier unendliche Reihe an Aufstehversuchen zu absolvieren, die doch letztlich immer wieder am Boden landen. Hoch emotional sind auch jene Szenen, in welchen James Wilton selbst zu Boden geht, in der bitteren Erkenntnis, nicht helfen zu können.
Der Soundtrack wurde von der von der polnischen Band Amarok unter Michal Wojtas produziert und verändert sich von einer psychedelischen Wohlfühlmusik hin zu rhythmisch peitschenden Klängen, bis zum Schluss wieder ein beruhigender Sound einkehrt.
„Staging a play: Tartuffe“ – Matija Ferlin und die Zagreb Dance Company
Tänzerisch gänzlich anders präsentierte sich die Zagreb Dance Company unter der Choreografie von Matija Ferlin, der bereits in vielen Schauspiel- und Opernhäusern in Europa Choreografien erarbeitete. Das zweite Stück seiner Reihe „Staging a play“ ist dem Gauner und Verführer Tartuffe gewidmet. Mit grellen Kostümen des weiß geschminkten Ensembles bietet er die Möglichkeit, Molières Komödie im Schnelldurchlauf kennenzulernen oder aber auch eine gänzlich eigene Interpretation zu verfolgen.
„For today I must stay in your house” – diese freche und bestimmende Aussage, die keine Widerrede aufkommen lässt – beherrscht das Bühnenbild in großen, dreidimensionalen Lettern von Anfang bis zum Schluss. Das Ensemble greift auf ein Bewegungsvokabular zurück, das an Marionetten erinnert und auf fließende Übergänge häufig verzichtet. Der starke Einsatz der Hände erinnert an die Gebärdensprache und ist auch als solche konzipiert. Jedoch charakterisiert sie auch einzelnen Figuren. Ein weiteres stilistisches Charakteristikum der Produktion ist der häufige Blickkontakt, den die Tanzenden mit dem Publikum aufnehmen. Er ist so intensiv, dass man zuweilen den Eindruck erhält, man solle sich doch auch zum Geschehen äußern oder dem einen oder der anderen zumindest beipflichten.
Die Produktion „Staging a play: Tartuffe“ wartet mit einer ganz besonderen, extrem wiedererkennbaren Choreografie auf, für die man auch den Terminus „Stummfilmtanz“ verwenden könnte. Sie lebt über weite Strecken von den überzeichneten Figuren, die sich, entgegen der üblichen Theater-Aufführpraxis, allesamt permanent auf der Bühne befinden. Ferlin verändert nicht nur damit Molieres Blaupause, sondern er verpasst der Geschichte am Ende einen neuen Twist. Tartuffe landet nicht im Gefängnis, sondern reagiert völlig entsetzt und schmerzgebeutelt, als er jenen Mann tot auffindet, den er um sein Hab und Gut brachte. Als Sounduntermalung wurde die Einspielung einer langen, zeitgenössischen Orgelkantate von Luka Princic gewählt. In ihr, wie in der choreografischen Arbeit selbst, verzahnt sich kunstvoll Vergangenheit und Gegenwart.
„It´s all about“ – Helene Weinzierl/Cie Laroque
Als Mitmach-Performance konzipiert, schaffte es die österreichische Choreografin Helene Weinzierl und ihre Compagnie Laroque in „It’s all about“ das Publikum im wahrsten Sinn des Wortes zu rocken. Im fließenden, kunstvoll angelegten Auftakt von Luan de Lima, Uwe Brauns und Alberto Cissello, haben ihre Tänzer nur ephemere Kontakte miteinander. Unterfüttert von einer fein abgemischten Musikcollage bietet die Choreografin ein Kaleidoskop von unterschiedlichen, humanen Befindlichkeiten und überzeugt durch präzises Timing. Von Rivalitäten oder pfauenhaften Selbstdarstellungen bis hin zu ersten Balzversuchen ist hier alles vertreten. Vieles bleibt angedeutet, mit wenigen Bewegungen nur skizziert – für eine persönliche Interpretation offen.
Bald aber verwickeln die Männer nach und nach das Publikum in kurze Gespräche und binden es so stärker ins Geschehen ein. Dabei verändert sich auch der Sound hin zu einer „happy dance music“, bei der man nicht still sitzen bleiben kann. Folgerichtig wird eine/r nach dem anderen aus dem Publikum auf die Tanzfläche geholt, bis sich diese in einen Space verwandelt hat, auf dem ein ausgelassenes Dance-Happening stattfindet.
Es ist nicht nur die kluge Verzahnung von einer Tanzdarbietung mit der aktiven Publikumsbeteiligung, welche das Stück auszeichnet. Es ist vor allem auch der unglaublich positive Spirit, der im aktuellen Bühnengeschehen eine Ausnahmeerscheinung darstellt.
„Fomo“ – Hungry Sharks
Ein starkes Statement der österreichischen Tanzszene lieferte die Truppe „Hungry Sharks“ von Valentin Alfery ab. Mit „Fomo – the fear of missing out“ gelangt ihnen das Kunststück, das Grazer Publikum, das nicht dafür bekannt ist, leicht in Begeisterungsstürme auszubrechen, zu Standing Ovations hinzureißen. Thema des Stückes ist die permanente Online-Präsenz, die für uns alle bereits zum Alltag gehört.
Ob der permanente Blick auf das Handy, ob die Dauerberieselung durch den Fernsehschirm, ob Gaming oder Bildbearbeitung, es gibt nicht viele Online-Bereiche, die in der Produktion nicht vorkommen. Dafür verwendet Alfery eine abwechslungsreiche Mischung aus vielen Solo- und Ensemblenummern, aber auch Szenen, in welchen mit Gesten Objekte und Situationen gezeigt und nachgestellt werden, die wir alle aus dem Alltag kennen: Das Schreiben auf einer Tastatur, das Wischen am Handy, Selfies produzieren oder der Klingelton beim Eintreffen von neuen Nachrichten oder Mails werden hörbar. Mehrfach wird ein Handscheinwerfer zum Schatten-Hilfsmittel. Mit ihm werden die Tänzerinnen und Tänzer zu übergroßen Figuren an der Wand, gegen die man kämpfen kann, vor denen man sich aber auch fürchten darf, weil sie übermächtig erscheinen.
Es ist die rasante Mischung aus Breakdance, Hip-Hop-Elementen und anderen Urban Dance-Bewegungsmustern, welche die Choreografie so überaus spannend machen. Der häufige Bodenkontakt, charakteristisch für viele Urban Dance-Spielarten, ist besonders in jenen Schluss-Szenen choreografisch extrem reizvoll, in welchen das Ensemble auf diese Weise zu Walzerklängen tanzt.
Internationales Tanzfestival Graz, 14. bis 20. Juli 2019