Mette Ingvartsen schaut aus verschiedenen Perspektiven durch Nacktheit, Erotik, Sex und Pornografie hindurch auf die Psyche des Menschen und den Zustand der Gesellschaft. Die Emanzipation des Vergnügens in „7 Pleasures“, die anonymisierte Lust in „to come (extended)“ oder die Korrelation von Willkr und Wonne in „21 pornographies“, immer geht es ihr auch um die politische Dimension des Erotischen.
Die dänische Choreografin und Tänzerin Mette Ingvartsen debütierte 2003, noch während ihres Studiums am P.A.R.T.S. in Brüssel, mit ihrem Stück „Manual Focus“. Inzwischen promovierte sie in Choreografie und stellte bei ImPulsTanz 2019 ihre jüngste, vierteilige Serie „The Red Pieces“ vor und gibt denen, die schnell genug gebucht haben, die Möglichkeit, ihre Performances „69 positions“ (2014), „7 Pleasures“ (2015), „to come (extended)“ und „21 pornographies“ (beide von 2017) innerhalb von elf Tagen zu sehen. In „The Red Pieces“ stellt sie den menschlichen Körper, seine Nacktheit und Sexualität, Begierden, Lust und Pornografie in den Focus ihrer auch politische Implikationen untersuchenden Arbeiten.
„7 Pleasures“
Wummernde Beats empfangen die Zuschauer, denen Zeit zum Studium der Bühneninstallation gegeben wird. Couch, Tisch, Yucca-Palme, Sessel, Teppich, Fransenvorhang, zwei Stühle. Sieben Elemente schon hier. Und im Parkett beginnen Menschen, sich auszuziehen. Sie erobern nach und nach die Bühne, bilden hinter der Couch einen Haufen nackter menschlicher Körper. Nur eine lehnt abseits im Sessel. Und endlich stoppt das nervige bumbum und das Saallicht verlischt.
Wie eine homogene Masse aus elf Körpern beginnt das Fleisch zu fließen, sich zu wälzen über die Couch, den Tisch umspülend, bis endlich es die zwölfte erreicht und sich einverleibt.
In fließenden Übergängen gehen die zwölf PerformerInnen durch verschiedene lustvolle Zustände, individuell und sozial erzeugt und erlebt. Jene sieben Arten des Vergnügens, das totale Aufgehen in der und das Verschmelzen mit der Masse, der individuelle Lustgewinn mit und an Objekten, das intensive Erleben seiner eigenen vibrierenden Körperlichkeit, eine mittelbare, distanzierte Erotik, die Lust an einvernehmlicher Dominanz und Unterwerfung, die ambivalente Lust und Sensibilität steigernde Wirkung von Schmerz und schließlich die befreiende Kraft der Akzeptanz der eigenen Begierden und der der Anderen und eines gemeinschaftlich und in Respekt gelebten lustbetonten Lebens werden wie ein Spaziergang durch den Garten der Lüste präsentiert.
„7 Pleasures“ ist spannend die gesamten 100 Minuten lang, vergnüglich auch durch Ausflüge der PerformerInnen ins Publikum, spricht in sinnlichen und poetischen Bildern zärtlich und zugleich kämpferisch für die Freiheit der Lüste. Gesellschaftspolitische Relevanz erhält das Stück durch seine Selbstverständlichkeit und das völlige Fehlen von Urteil und Wertung bezüglich eines jeden „Vergnügens“. Dass es in einigen Szenen eine Abseitsstehende gibt, verstärkt diese Bilder noch.
„To come (extended)“
Nur das Rascheln der Anzüge begleitet das Stellen der Skulpturen. 15 TänzerInnen in hautengen türkisblauen Ganzkörper-Overalls, anonymisierte, geschlechtslose Wesen, bauen in wechselnden Konstellationen Plastiken, die alles darstellen, was Menschen an sexuellen Praktiken ausüben, erträumen (oder nicht einmal das) oder auch als Perversion stigmatisieren. Es raschelt nicht nur, es knistert. Aber auch bewegte Bilder erzeugen die PerformerInnen. Pendelnde Gruppen von „Aktiven“, einen Turm aus vier Hinterteilen, die ein Fünfter zur Belustigung des Publikums mit seiner flachen Hand weit ausholend schlägt, Voyeure, SM, „Natursekt“ … Plötzlich Beifall und Trommelwirbel aus den Boxen. Blackout.
Sie erscheinen nackt, nur in weißen Turnschuhen und mit Ohrhöhrern verkabelt, ziehen einen ebenso türkisblauen Vorhang vor den Bühnenhintergrund, um dicht gedrängt orgiastische Geräusche synchron zu intonieren, kollektiv, distanziert, karikierend. Sehr amüsant.
Drums leiten über in Teil drei. Zu Swing-Musik schwingen sie alles, was sie schwingen können, tanzen voller Lebensfreude einzeln und in ständig wechselnden Paarungen in synchronisierten Bewegungen. Einmal auch fährt alles herunter: Rhythmus, Licht und Bewegung. Nach dem Reboot, kurz vor dem Ende, animieren sie das Publikum zum Mitklatschen, nicht ohne das Licht für diese Phase von warm auf kalt zu drehen. Swing-Musik im Swingerklub, zum Mitklatschen. Köstlich. Und die Zuschauer johlen ...
In ihrem 2017 wieder aufgenommenen, erweiterten Stück „to come (extended)“ zerrt Mette Ingvartsen sehr Privates und Intimes, unter Verschluss Gehaltenes in die Öffentlichkeit. Die Ästhetik der skulpturalen Bilder ist umwerfend, ihre Sterilität ist trotz unzweifelhafter und für manch einen vielleicht schon skandalöser sexueller Inhalte frappierend. Die Choreografin negiert gesellschaftliche Strukturen und macht durch Anonymisierung und Ästhetisierung auch noch jede „Abartigkeit“ zu Allgemeingut.
„21 pornographies“
Schwarz ist die Bühne, nur drei Leisten am Boden geben kaltes Licht. Eine Stimme aus den Lautsprechern beginnt zu erzählen. Mette Ingvartsen erhebt sich im Parkett, androgyn schwarz-weiß gekleidet. Sie beschreibt eine Szenerie mit enger Tür, Hallen, Labyrinthen, Korridoren, größeren Hallen, schwarzen Männern, schönen Frauen mit Juwelen im Haar. Eine Frau sitzt allein, neben einem Stuhl. Dergestalt die Phantasie der Zuschauer ansprechend und anregend, spricht sie etwa eine Stunde lang von Orten, Zeiten und Begebnissen und illustriert mit Gesten, Tänzen und performativen Zwischenspielen.
Sie beschreibt lokal und zeitlich ineinander verschränkte Situationen, redet vom gezwungen Werden, Exkremente zu verfüttern. Eine Andere zwang man, ihren Kot zu essen, und Ingvartsen führt vor, wie sie würgte und schließlich doch schluckte. Und dass sie ihre Mutter tötete, weil diese Widerstand leistete gegen ihren Willen, zu leben, was sie wollte. Uniformierte erscheinen mehrmals, auch die, die auf Leichen, die sie liegen sahen, urinierten. Hochzeitsgeschichten folgen. Wir, die Zuschauer, durften dann unter unseren Sesseln ausgelegte Schokolade essen ... Sie führt den Tanz einer in Schokolade Tanzenden am Filmset vor, ironisch dramatisiert, infantil endend. „Cut!“ Oder jene Frau, der überraschender Weise ein Champus-Korken direkt in ihrer Vagina landet und die darauf hin einen Tanz beginnt … Sie uriniert auf die Bühne und schmiert sich ihren Harn in Gesicht und Haare. Und eine alte Frau („Lebt sie noch?“), deren Lippen sie leckt, deren Nippel sie blutig beißt und die sie mit den Fingern erkundet, bis es an der Tür klopft. Mitkommen! Uniform anziehen!
Verstummt umfährt sie mit einer Leuchtstoffröhre langsam ihren nackten Körper, erscheint nach einem Blackout mit einem schwarzen Sack über dem Kopf und beginnt sich zu drehen, die Röhre quer über sich haltend. Viele Minuten lang ertönt das Schlagzeug-Trommelfeuer eines Metal-Songs, flackert die Rundumleuchte im Saal. Wie hält ein Mensch das so lang aus ...
Mette Ingvartsen arbeitet in ihrem Solo „21 pornographies“, der komplexesten Performance der Serie, mit einem erweiterten Pornografie-Begriff. Die vielen Anekdoten, skurril, ironisch, klinisch, brutal, reden nicht von explizitem Sex. Sie untersucht den im weitesten Sinne kommerzialisierten Lustgewinn und die unidirektionale Verquickung von Macht und Lust, die alle Bereiche unseres Lebens durchdringen. Ob Leichenschändung, Koprophilie oder Sadomasochismus, drastische Metaphorik für den seelischen Zustand unserer Welt, die sich, wie am Ende, immer weiter dreht, blind gegenüber dem selbst erzeugten Leid.
„21 pornographies“ ist eine mental und physisch äußerst anspruchsvolle Performance, in der Mette Ingvartsen rundum besticht und am Ende dann auch den Letzten noch emotional hineinzieht.
„7 Pleasures“, gezeigt am 19. und 21. Juli 2019 im Akademietheater; „to come (extended)“, gezeigt am 22. Juli 2019 im Volkstheater; „21 pornographies“ am 24. Juli im Volkstheater; alle bei Impulstanz (noch bis 11. August)