Blutleer kann man die Performances von Florentina Holzinger wahrlich nicht nennen. Im Gegenteil, der rote Körpersaft fließt reichlich auf der Bühne. Wie schon in den früheren Stücken ihrer Trilogie arbeitet sie sich am akademischen Tanz ab, der sie als in Contemporary Dance ausgebildete Künstlerin sehr zu beschäftigen scheint. Hier am romantischen Ballett „Les Sylphides“.
Doch ähnlich wie in „Apollon“ fehlt bei aller Bildintensität und thematischer ironischer Brechung ein gesamtdramaturgischer Fokus. Es ist ein wenig so, als käme alles in Holzingers Theater-Kochtopf, was sie gern mag: Nacktheit, Ballett, Hexen, Blut, Splattermovies, Stunts, Motorräder. Das Publikum reagiert begeistert, denn Action gibt es jede Menge und fad ist es fast nie.
In „Tanz“, dem dritten Stück ihrer Trilogie nach „Recovery“ und „Apollon“, ist ein besonderer Gast dabei: Beatrice Cordua, 79. Sie tanzte in der Uraufführung von John Neumeiers Hamburg Ballett in „Le Sacre“ 1975. Das „Ballett-Journal“ nennt sie eine „weltweit einzige Anti-Ballerina“, die Neumeier eigentlich gar nicht im Ensemble haben wollte. Doch gab er mit der ihm eigenen Intuition der weniger technisch als persönlich starken Erscheinung eine Chance. Mit Sicherheit hat sie dem Stück auch zu jenem Ruhm verholfen, den es einfuhr. Und selbstverständlich tanzte Cordua damals nackt im Gegensatz zu den braven heutigen Einstudierungen, wie auch zum Beispiel des Wiener Staatsballetts in hautfarbenen Trikots.
Dieser Beatrice Cordua kommt nun bei Holzinger die Rolle der Ballettmeisterin zu, die den willigen Schülerinnen (es spielen nur Frauen) ein Training gibt und die Exercises an der Stange anleitet. Sie ist bereits nackt und lädt die anderen ein, es ihr gleich zu tun. In Folge kann man nach dem zuvor stattgefundenen ersten Bild, in dem Holzingers Hexensabbath on stage implementiert wird (zum Beispiel mit einer auf dem Staubsauger reitenden Hexe und einer Hexengeburtsszene), eine durchaus kurzweilige Übungsstunde in klassisch akademischer Tanztechnik miterleben. Denn Cordua kommentiert die Übungen von Positionen, Grundhaltungen, Schritten und Sprüngen sehr individuell. Sie erzählt etwa von ihrer Faszination für das Croisé oder En-dehors in sehr liebevoller Weise, und alle Schülerinnen absolvieren die Übungen auch brav.
Man sieht, wer mehr oder weniger Vorkenntnisse hat, doch insgesamt haben die Tänzerinnen Holzingers fast alle keine klassische Ausbildung in ihre Körper geschrieben, wiewohl sie für dieses Stück sehr viel gearbeitet haben müssen. Es wäre aber kein Holzinger-Stück, wenn das Ganze nicht allmählich kippen würde in eine erotisch aufgeladene, schrille Karikatur. So inspiziert Cordua mit Begeisterung die Vaginas der Tänzerinnen und weiß auch diese launig zu kommentieren. Als dann die Stangen weggebracht werden, beginnt der zweite Akt und es ist Fantasy-Splatter-Time angesagt. Zuvor unterbricht Holzinger das Spiel noch und erklärt dem Publikum, worum es hierbei eigentlich gehe. Nämlich um die Gemeinsamkeiten des Körperdrills von Akrobatik (was Holzinger auch gelernt hat) und klassischem Tanz. Holzinger bietet auch eine Art Readers Digest-Version der Geschichte des romantischen Balletts und insbesondere „La Sylphide“, das ja mit seinen fliegenden Luftgeistern als erstes berühmtes Werk des Genres gilt.
Übrigens lautet der Untertitel von „Tanz“: „Eine sylphidische Träumerei in Stunts“. Und dann geht es auch schon los mit der erwartbaren Mega-Action. Viel Blut, die Dekoration eines spooky Märchenwalds, ein böser Wolf, wiederum Hexenzeugs. Dann gebiert Cordua eine Ratte und eine Tänzerin wird im Hexenkessel gekocht. Schon seit Beginn des Abends, schweben Motocross-Maschinen ohne Motor an der Decke. Die wollen natürlich von den artistisch bestens trainierten Frauen mittels Seilen und Trapezen erklommen werden, um dann hoch oben „sylphidisch“ und wild beritten zu werden. Doch auch eine poetisch schöne Szene mit sehr klarem und präzisem A Capella-Gesang bieten die Frauen. Sogar Publikumsbeteiligung ist inklusive bei Holzinger, wenn ein Geldschein auf ihre Bitte hin zirkuliert. Wie eine Trickkünstlerin einer Magier-Show errät Holzinger freilich, bei wem er gelandet ist. Natürlich hat das alles einen symbolisch-politischen Gehalt, es geht um Macht und Umverteilung und Kapitalismus und all das.
Auch wieder in der Show: ein Akt der Selbstverstümmelung einer Tänzerin, die sich Metallhaken durch die Haut treiben lässt und an diesen baumelnd am Trapez hochgezogen wird (Achtung: eine konterkarierte Sylphide!). Video-Großaufnahmen auf Screens verdoppeln das brutale Treiben, wie schon bei „Apollon“. Es gibt sogar Szenenapplaus, wie bei einer Freakshow, möchte man fast sagen. Was genau begeistert die Menschen da eigentlich? Nach zwei Stunden dann Standing Ovations für die wilden Frauen und ihre rebellisch-anarchistische Show. Übrigens ist diese koproduziert von einer Reihe von Kulturhäusern wie unter anderen dem Künstlerhaus Mousonturm oder den Münchner Kammerspielen. So anarchisch ist das also gar nicht. Die Nachkommen der Mutter aller PerformerInnen, Marina Abramovic, beackern hier ein bereits sehr institutionalisiertes Feld.
Florentina Holzinger gehört eindeutig zu den interessanten Künstlerinnen Österreichs. Sie hat einen stark ausgeprägten theatralen Sinn und bewegt sich ständig im Grenzbereich der Medien. Sie macht weder Performance noch Theater, sondern mischt die Medien und trifft damit offenbar auch auf einen empfänglichen Nerv ihres immer begeisterten Publikums. Und doch wünscht man ihr einmal mehr, die „Programmheftdramaturgie“ zu überwinden und auch im Bühnenact selbst ihre theoretischen Fragestellungen einzuarbeiten. Wobei diese vielleicht auch noch zu schärfen wären, denn dass Ballett Disziplin erfordert und einem speziellen Körperideal nacheifert, kann man zwar hinterfragen. Aber eigentlich ist das schon eine banale Frage. Und auch ein Klischee, von wegen böser Drill und so. Auch den feministischen oder queeren Gehalt ihres Zugangs könnte man einmal abklopfen auf seine Essenz. Was genau bedeutet das denn überhaupt noch? Was ist denn das Problem im Großen und Ganzen, wohin geht die Reise?
Ohne eine gewisse Zuspitzung läuft das Unternehmen Holzinger sonst Gefahr, Show zu bleiben, modern zwar und unterhaltsam, aber doch eben nur Show. Nacktheit und Blut genügen nicht.
Florentina Holzinger „Tanz“, Premiere am 5. Oktober 2019 im Tanzquartier Wien