Repertoirecompagnien gibt es hierzulande nicht. Wie großartig es allerdings ist, wenn an einem Abend mehrere hochkarätige choreografische Signaturen – diesmal allesamt von Frauen – vereint präsentiert werden, das war im Festspielhaus St. Pölten zu erleben. Für einen derartigen Genuss braucht es freilich auch ein Ensemble mit großartigen TänzerInnen, mit dem das Ballet BC Vancouver aufwarten kann.
Ob sie nun wie in Aszure Bartons „Busk“ akrobatische Stunts hinlegen, minimalistische Gruppenbewegungen in Sharon Eyals „Bedroom Folk“ vollführen oder in „Solo Echo“ von Crystal Pite dahinschmelzen, diese TänzerInnen beherrschen alle Facetten moderner Tanzkunst auf klassischer Basis.
Der Titel „Busk“ mag sich zwar, wie im Programmheft behauptet, vom spanischen buscar (suchen) herleiten, doch erkennt man in den in schwarze Hoodies gekleideten Figuren unschwer „buskers“, Straßenmusiker: ihr Hut liegt für Spenden bereit. Mit aufregenden Tänzen und artistischen Kunststücken versuchen sie ihr Publikum zu verführen, für sich zu gewinnen. Wenn sie sich nicht zur Schau stellen, kauern sie armselig auf der Treppe, rotten sich zusammen und strecken das Gesicht in die Sonne. Die choreografische Struktur mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Soli und Corps, die musikalische Collage und das raffinierte Lichtdesign von Nicole Pearce verbinden sich zu einem Bild, das auf subtile Art und Weise die heiteren Seiten des Künstlerlebens hervorhebt ohne die harschen ökonomischen Realitäten zu verleugnen. Die kanadische Choreografin Aszure Barton benützt dafür die Bandbreite der Skills der TänzerInnen des Ballet BC Vancouver, die auch die Artistik des Cirque Nouveau in ihre Körper integriert haben.
Ganz anders Sharon Eyal aus Israel, die in einer minimalistischen Bewegungsstudie Gegensätze wie Tag und Nacht oder Jugend und Alter nachzuzeichnen versucht. Vor einem sich ständig verändernden rot-schwarzem Backdrop zappelt die Gruppe mit kleinen Bewegungen, öffnet sich nach und nach zu einer Linie, um bald wieder zu einem kompakten Körper zusammenzufinden. Eyal, einst stellvertretende Direktorin und Hauschoreografin der Batsheva Dance Company, schlägt zwar einen anderen ästhetischen Weg ein als ihr einstiger Chef Ohad Naharin. Und doch gibt es Parallelen, die sich in einem hintergründigen Stimmungswechsel, einer unterschwelligen, humoristischen Note, oder in der präzisen Bewegungsführung äußern. „Bedroom Folk“ entfaltet sich zum elektronischen Sound von Ori Lichtik. Der Vorhang fällt mitten im Tanz und die Musik erklingt noch eine Zeitlang weiter. Kein Ende gefunden? Oder eine absichtlich Publikumsverwirrung? Na, sicher doch das letztere …
Schnee rieselt im Hintergrund, wenn sich der Vorhang für den dritten Teil des Abends, Crystal Pites poetisches Werk „Solo Echo“ hebt. Die international gefeierte Choreografin (unter anderem auch wiederholt für das Ballett der Pariser Oper) bringt Schönheit, Harmonie und Meditation zurück. Wie die TänzerInnen hier – selbst weich, flüssig, zart und lautlos wie Schnee – zu zwei Cellosonaten von Johannes Brahms über die Bühne gleiten, wie sie aneinander gereiht, übereinander geschichtet, sich immer wieder zu neuen Bildern fügen, die mit ungeheurer Geschwindigkeit aufgelöst werden, wie sie Musik körperlich machen, das sind magische und tröstliche Momente, wie sie sie nur noch selten im Tanz der Gegenwart erlebbar werden. Es ist diese nicht-klassische Ästhetik, die die Zuseherin aus dem Alltag löst, ihr neue Gedanken vermittelt und sie auf eine Fantasiereise schickt. Wenn die im zeitgenössischen Kunstschaffen verfemte Begriff der Schönheit heute in verschiedenen Disziplinen als Grundlage für Konzepte wie Fairness und Gerechtigkeit, soziales Handeln, Leiden oder Gemeinschaftswerte im politischen Sinn verhandelt wird, so wird all dies bei Crystal Pite verkörpert: in dem sie die Kälte des Schnees dem warmherzigen Blick auf die menschliche Existenz gegenüberstellt. Einfach wunderbar!
Die scheidende Direktorin Emily Molnar hat das Ballet BC Vancouver in den letzten zehn Jahren auf großartige, künstlerisch vielfältige Beine gestellt. Ab der nächsten Saison wird sie ihre Fähigkeiten als künstlerische Leiterin beim Nederlands Dans Theatre realisieren, das hoffentlich ebenfalls bald wieder einmal in St. Pölten zu sehen sein wird.
Ballet BC Vancouver: Busk/Bedroom Folk/Solo Echo am 24. Jänner im Festspielhaus St. Pölten