Das Grazer Künstler-Duo Marta Navaridas und Alex Deutinger tat sich mit dem ebenfalls in Graz beheimateten Poeten und Performer Christoph Szalay zusammen, um den Oktopus auf seine metaphorische Tauglichkeit hin zu untersuchen. Das Ergebnis, im September 2018 im steirischen Oberzeiring uraufgeführt, wurde nun an drei Abenden im studio brut Wien präsentiert.
Breite graue Vorhänge säumen die Leinwand, auf der Seegras in den Wellen wogt. Bald auch große Tücher, weiß, gold und orange. Das Ende dieser Filmsequenz gibt den Blick frei durch die transparente Projektionsfläche auf ein mit eben diesen Tüchern bedecktes, auf einem Tisch installiertes Gebilde, in das vorsichtige Bewegung kommt. Eine erneut eingespielte Aufnahme von Unterwasserszenen zeigt die drei PerformerInnen, wie sie sich der sie umhüllenden Tücher entledigen, sich wie Nixen geschmeidig in „ihrem“ Element bewegen. Badehosen und Bikini sind gefärbt wie ihre - ganz individuellen - Schleier.
Während Christoph Szalay redet, die Leinwand schob sich zur Seite, schreiben sie auf seine Haut das, wovon er redet. Vom Befreien spricht er, vom Entschleiern, vom Traum, anderen Himmeln und anderen Geschichten, von Verlangen und Liebe. Und er singt mit tiefer, ruhiger Stimme „When I saw her face“, die Orgel spielt dazu, während Marta und Alex hinter ihm gespiegelt sich bewegen. Und wieder schiebt die Leinwand sich zwischen uns und das Geschehen dort. Sie schlingen sich umeinander, dass man nur noch ein Knäuel aus Armen, Beinen, Körpern sieht.
Sie lüften ihn mehrmals, den „Schleier der Maya“, jenes der indischen Philosophie entstammende Paradoxon aus Offenbarung und Verhüllung, aus Sein und Nichtsein. Unsere Unkenntnis der wahren Natur der Welt und des Menschen, unser Nichtwissen vom Wesen der Dinge, unsere Wahrnehmung der Wahrheit als eine von uns verschiedene Wirklichkeit wird hier zum Spiel mit für uns (un-) durchdringlicher Transparenz.
Wäscheklammern werden zu lustigen posthumanen Körper-Extensionen. Alex Deutinger singt vom „fucking TV“, weil es uns die Stärke nimmt und nie den Weg zeigt. Aber er kennt ihn: „Es ist nur das Mysterium!“ Und ganz nebenbei zeigt er sich als wirklich guter Sänger. Und sie liegen übereinander und lachen ausgelassen, haben Mühe, sich zu fangen. Was in ein nasses, erotisches Fest der körperlichen Dreieinigkeit mündet. Drei Herzen, die wie in einem vielgliedrigen Leib schlagen. Wäre es nicht wundervoll, sich mit acht Armen und neun Hirnen der Lust hingeben zu können? Von eben dieser singt Marta Navaridas im live performten Finale. „Because the night“ belongs to lust. Das Licht (von Svetlana Schwin) strahlt ins Publikum, die drei steigen durch die Reihen, fassen die Zuschauer an, Marta singt „Touch me now!“ Ein projizierter Unterwasser-Dreier zum immer wüster werdenden Sound (live von Stephan Sperlich) folgt. Und die beiden Männer schwimmen hin und her wie Fische, gefangen in einem Becken.
Utopien haben gerade Nebensaison. Doch das Trio Navaridas/Deutinger/Szalay macht den „Octopus“ zu einem mehrdeutigen Bild für eine Ur-Sehnsucht des Menschen, das Geworfen-Sein in die Welt in ein Getragen-Werden zu wandeln. Das demütige, befreiende Schweben im Raum der Möglichkeiten, das Gewichtslose, das Aufgeben der Widerstände, das Abfallen all der körperlichen und psychischen Limitierungen, das Überwinden der Täuschungen, das All-Eine sicht- und spürbar machen gelingt ihnen auf beeindruckende Weise. Video-Installation, Text, Musik und Sound, Gesang, Tanz, Licht, Bühne und Kostüme verschmelzen zu einer harmonischen, auch humorvollen und ironischen, poetischen, sinnlichen Reise ins Unbewusste. Vordergründig nur ist „Octopus“ ein Fest befreiter Sexualität. Ständige Wandlung und Erneuerung, das Überwinden fester Formen und konsolidierter Verformungen, das Auflösen des illusorischen Ich machen uns zu universellen Wesen, die erst dadurch zu universell Liebesfähigen werden. Das Mysterium der Liebe.
Am Ende drückt sich Marta Navaridas Mund und Nase platt an der gläsernen Grenze zu uns, entstellt bis zur Fratze. Weil es (noch) ein Mysterium ist ...
„Octopus“ von Marta Navaridas, Alex Deutinger und Christoph Szalay, am 1. Februar 2020 im studio brut Wien.