Das Universum scheint sich links zu drehen. Die Belgierin Miet Warlop präsentierte mit ihrer 2018 entstandenen Performance „Ghost Writer and the Broken Hand Break“ eine Arbeit äußerst seltenen Charakters. Drei sich in Sufi-Manier drehende PerformerInnen entfesseln einen Sog, dem man als ZuschauerIn unentrinnbar ausgeliefert ist.
Das Publikum wird im Kreis um die Bühne der Halle G des Wiener Museumsquartiers platziert. Symbolkraft schon hier: Das Absolute, Göttliche, All-Eine. Ohne Anfang und Ende. Ohne Richtung. Drei Lichtkreise am Boden warten. Ohne klares Zeichen für einen Beginn betreten die drei PerformerInnen Miet Warlop (im schwarzen Pullover und nackten Beinen), Wietse Tanghe und Joppe Tanghe (beide Männer in schwarzen Hosen und mit freiem Oberkörper) die Bühne und beginnen, sich in den Lichtkreisen zu drehen. Noch in Stille. Hörbar ist nur das Knarzen ihrer drehenden Füße und Atemgeräusche, von ihren Headset-Mikros übertragen. Sie tragen weiße Socken als Gleitmittel und an ihren rechten Händen farbige Handschuhe. Die Frau rot, die beiden Brüder gelb und blau. Aus eben diesen Farben mischen elektronische Displays das gesamte Farbspektrum, bis hin zum Weiß. Die drei sind das Alles. Aber nur gemeinsam.
Ohrenbetäubend, und erschreckend, ist der erste „Bum“, mit dem die beiden Männer eine Rhythmus-Sequenz starten. Pads an ihren Gürteln schlagend trommeln sie Punktierungen und Triolen. Während sie sich drehen, redet Warlop etwas von „a lot of dust, a lot of sex“. Größtenteils unverständlich bleiben die allein oder im Chor rezitierten Texte bis zum Schluss. Sie gehen unter im Dröhnen der Beats und der Klänge (Musik: Pieter De Meester, Wietse Tanghe, Miet Warlop). Mit von einem Techniker in ihre Bewegung hinein gereichten Instrumenten, Warlop erhält ein Becken am Stiel, die Männer eine E-Gitarre und ein Tomtom, befeuern sie den bald einsetzenden elektronischen Sound zusätzlich.
Nur einmal, für wenige Sekunden, unterbrechen sie ihr Kreiseln, der Sound kreischt, um sich zu Techno-Beat, Gitarren-Riffs a la Gilmore und diabolischem Lachen immer schneller in Extase zu tanzen. „I am a message in a bottle“. Die Lichtkreise beginnen, die TänzerInnen verlassend, um ein imaginäres Zentrum zu rotieren, wie bald die drei selbst auch. „The moment of transition“. Man wird einfach mitgerissen. Immer schneller kreist es, irrwitzig und unwiderstehlich. Bis einer der Männer das plötzliche Ende anzählt. Alles steht. Keuchen. Mühevolles Stehenbleiben. Schwindlig ist nicht nur den Dreien auf der Bühne. Stille und Licht. Und sie blicken, jeder für sich, auf ihre farbigen Hände.
Aus drei Teilen setzen sie ein Ganzes zusammen, erschaffen ein Universum jenseits aller Spaltung und Vereinzelung, bohren sich mit ihrem Tanz in das Alles und das Nichts, in das ewige, „Leben“ und „Tod“ und überhaupt alles vereinende Sein. Um am Ende wieder zu zerfallen. Nun aber, mit ungeheurer Gewalt in die Wahrnehmung gepresst, findet sich ein Jeder, auf der Bühne wie um sie herum, auf einer höheren Ebene des Bewusstseins wieder.
Hochkonzentriert und -kontrolliert geben sie sich hin. Die „defekte Handbremse“ im Titel ist Programm. Organisierter Kontrollverlust, bewegungs- und Sound-induzierte Befreiung. Das überwundene, aufgelöste Selbst. Die drei PerformerInnen transzendieren im besten Sinne des Wortes sich und uns als Menschen, das Leben, die Zeit und den Raum. Hin zu einem ewigen Kontinuum, dessen Existenz zu spüren man am Ende meint. Dieser Rausch begeisterte das - auf Abstand sitzende - Publikum. Und der Glücksmoment hielt noch eine Weile an.
Miet Warlop „Ghost Writer and the Broken Hand Break“ am 23. Oktober 2020 im Tanzquartier Wien.