Wow! Es ist zu schade, dass diese erste, richtige Premiere des neuen Ballettchefs mit dem gesamten Ensemble des Wiener Staatsballetts nicht von einem Publikum vor Ort bejubelt werden konnte, sondern nur im Livestream zu konsumieren war. Die Bewegungssprache, die Martin Schläpfer in „4“ bietet, ist atemberaubend, die Musikalität hinreißend und das Ensemble hochmotiviert und in großartiger Form. In Kombination mit Hans van Manens „Live“ bietet dieser Abend darüber hinaus ein Statement zur Ballett-Zeitgeschichte.
„4“
Den Rücken gebeugt humpelt sie auf die Bühne, eine gebrochene Frau. Sie fällt. Rappelt sich auf. Da setzt die Musik ein – eine heitere Weise, und vier Gestalten gesellen sich zu ihr. Die tiefen Pliés – eher Squats mit dem Hintern zum Publikum – verleihen Yuko Kato und Rebecca Horner gleich den humoristischen Anstrich von Jokern. Im Laufe des Stückes werden sie wiederholt auftreten, um mit sehr spezifischen Aktionen das Geschehen dieser Symphonie zu kommentieren. In dieser Anfangsszene des ersten Satzes tanzen sie nun ein Quartett mit Zsolt Török und Andrey Kaydanovskiy, das bereits auf die verschwurbelte Körpersprache hinweist, die immer wieder aufblitzen wird.
Mahler bietet in seiner 4. Symphonie so viele magische Melodien, die vertanzt werden wollen: Da ein Volkslied, dort ein romantischer Teil, da ein Adagio, das nach einem Pas de deux ruft, dort ein Walzer, der bald von unheilvollen Basstönen durchbrochen wird. Diese Musik voller Brechungen, Störungen, unerwarteten Wendungen, lösen bei Schläpfer, der sie als „hinterlistig“ bezeichnet, eine opulente Bilder- und Bewegungsflut aus.
Der Choreograf lässt sich für sein erstes Wiener Werk „4“ von Mahlers Komposition leiten, ohne sich ihr zu unterwerfen oder sie zu visualisieren. Das Ergebnis ist ein Ballett, das der Musik auf Augenhöhe begegnet. Wenn deren Logik wieder einmal den Faden zu verlieren scheint, dann darf man den Frust auch wütend mit dem Spitzenschuh in den Boden hacken (der übrigens in bekannter Schläpfer-Manier immer wieder rhythmisch-tänzerische Akzente setzt, akzentuiert auf den Boden klopft oder darauf leise flüsternd gleitet).
Das Wiener Staatsballett agiert als ein Körper, bei dem die Hierarchien aufgelöst zu sein scheinen. Dennoch: die Solistinnen und Solisten haben jeweils spezielle Aufgaben und stellen in Soli, Duetten oder in kleinen Gruppen ihre Kompetenzen ins Rampenlicht. Denys Cherevychko etwa in einem verschmitzten Solo, in das bald Davide Dato einsteigt. Während Claudine Schoch und Marcos Menha sich in einem nahezu traditionell lyrischen Pas de deux treffen, verzahnen sich Alice Firenze und Eno Peci ineinander. Ketevan Papava setzt ihr leidenschaftliches Temperament in einem flotten Tanz mit Calogero Failla ein, Adi Hanan und Andrey Kaidanovskiy verschrauben ihre Körper zu bewegten Skulpturen, Masayu Kimoto kann sein tänzerisches Statement gar nicht zu Ende führen, da rast schon die nächste Gruppe herein.
Gerne würde man bei der einen oder anderen Szene länger verweilen. Doch Mahler treibt das Geschehen voran, irrlichtert von hier nach da, provoziert Auftritte und Abgänge, oder konspirative Gruppen, die sich, kaum formiert, wieder auflösen, Männer die sich verdoppeln, und von weißen Nymphen in die Flucht geschlagen werden. All das kann nicht ausgebreitet werden, denn ein Schwelgen könnte hier leicht in Kitsch umschlagen.
Davon ist „4“ meilenweit entfernt. Dafür sorgen auch Catherine Voeffrey mit ihren eleganten, detailliert abgestimmten Kostümen und Florian Etti mit einem schlichten Bühnenbild, in dessen rechteckigem Trapez unterschiedliche Lichtstimmungen entstehen (Licht Thomas Diek), oder aus dem das Ensemble auf die Bühne „geflutet“ wird. Und last but not least das Wiener Staatsopernorchester, das seinen Mahler kennt und unter der musikalisch feinfühligen Leitung von Axel Kober ein umfassendes Klangerlebnis induziert.
Zum Lied des 4. Satzes („Das himmlische Leben“ aus „Des Knaben Wunderhorn“) – wunderbar gesungen von Slávka Zámečniková, erforschen Kato und Horner zum letzten Mal das Terrain, bevor das Ensemble bei der letzten Strophe die Unruhe der vergangenen Stunde in kleinen Gesten bündelt. Während aus dem Orchestergraben die letzten Takte erklingen, erheben die TänzerInnen und die Sängerin die Hände zum Gesicht und blicken in die Handflächen – als würde darin die Zukunft zu lesen sein.
Schläpfers Choreografie hält Mahlers Komposition eine Art Vexierspiegel vor. Sowie der Komponist zur Wende ins 20. Jahrhundert sich nicht mehr auf dem romantischen Metanarrativ ausruhen konnte und nach neuen Wegen in der Musik suchen musste, so greift der Choreograf nun in die Formensprache des klassischen Balletts ein, pfeift auf dessen Konventionen, schöpft aus der unendlichen Freiheit der zeitgenössischen Kunstkanons, und kehrt dann doch wieder zur akademischen Sitte zurück. Beide agieren aus einer künstlerischen Notwendigkeit ihrer Zeit und auf der Suche nach der aktuellen Bedeutung von Schönheit. Im Licht der Nachgeborenen wird Mahler nun auch in seiner fahrlässigen Haltung zu der Kunstgattung Tanz (als Diektor der Wiener Oper) rehabilitiert, für die sich seine Musik doch so gut eignet, wie Schläpfer beweist: Der emotionale Gehalt, der Schmerz, die Verzweiflung, die Trauer, aber auch die Ausgelassenheit und Freude im einen spiegelt sich kongenial im anderen Medium wider.
Live
Wie weit der Wiener Ballettchef seine Sprache weiterentwickelt hat, wird besonders im Vergleich zu „Live“ von Hans van Manen deutlich. Das Stück mit einer Tänzerin und einer Kamera war eines der ersten Ballette seiner Zeit, das Videotechnologie verwendete. Bislang wurde es nur vom Het Nationale Ballet in Amsterdam, dem der 88-jährige noch bis heute als Hauschoreograf verbunden ist, getanzt. In Wien war Olga Esina die Auserwählte für diese erste Einstudierung an einem anderen Ensemble. Wie in Amsterdam bediente auch in Wien Henk van Dijk die Kamera, mit dem das Stück 1979 kreiert wurde.
Das Werk ist richtungsweisend, denn van Manens Experiment ist an die Frage gekoppelt, welchen Mehrwert der Einsatz von Technologie für das Bühnenstück bringt. Klug nützt er die Möglichkeiten des Close up, um Füße in Spitzenschuhen oder Hände überlebensgroß auf die Leinwand hinter der Tänzerin zu projizieren. Die Kamera kann aber auch die verborgene Seite zeigen. Während Esina mit dem Rücken zum Publikum agiert, ist sie auf dem Bildschirm von vorn zu sehen. Gleichzeitig entwickelt van Manen eine Filmstory, indem er einen Tänzer (Marcos Menha) auf die Bühne schickt. Der verschwindet ebenso schnell, wie ein Phantom, dem die Tänzerin folgt. Die Kamera erlaubt den Ortswechsel ins Foyer und beobachtet die komplizierte, leidenschaftliche und konfliktreiche Beziehung. Nun wird auch der Kontext für die Naheinstellungen im ersten Teil und das emotionale Spiel in ihrem Gesicht klar: In einer Rückblende in den Ballettsaal erlebt das Publikum den vorangegangenen Streit. Ist es eine Geschichte oder lediglich eine Probe zum Pas de deux? Jedenfalls ein Verwirrspiel von Realitätsebenen. Und die Versöhnung kann nicht stattfinden. Allein verlässt die Tänzerin das Haus und geht ins nächtliche Wien. Die Kamera verfolgt sie auf ihrem Weg.
Lange vor Big Brother, der Omnipräsenz der Kamera und der Verbreitung intimer Bilder auf Social Media, verwies van Manen bereits 1979 auf die Stalking-Qualität der (damals relativ neuen) Technologie.
Doch „Live“ bleibt ein Bühnenstück voller Poesie, nicht zuletzt aufgrund der musikalischen Auswahl von Klavierstücken aus dem Spätwerk von Franz Liszt, fabelhaft interpretiert von Shino Takizawa.
Die beiden Werke an einem Abend ergeben ein programmatisches Gustostückerl, das die Ballettentwicklung der letzten 50 Jahre gegenüberstellt. Die neoklassische Strenge bei van Manen ist einer kontrollierten Anarchie gewichen, die für das Ballett des 21. Jahrhunderts spannende Persektiven eröffnet. Das zeitgenössische Ballett ist nun fest in Wien verankert und hoffentlich demnächst wieder im Theater vor Publikum zu erleben.
Wiener Staatsballett: „Mahler, Live“, Uraufführung am 4. Dezember in der Wiener Staatsoper. Nächste Vorstellung am 8. Jänner.
Zeitversetzt gestreamt auf Arte Concert, wo es bis 4. März 2021 abrufbar ist.
„4“ wird am 8. Dezember um 9.05h auf ORF2 ausgestrahlt.