Wie gruselig! Das MONTAGSSTÜCK XVI der Bayerische Staatsoper bot eine Online-Wiederaufnahme von Andrey Kaydanovskiys „Cecil Hotel“ (uraufgeführt am 28. Juni 2019). Mit 35 Minuten Dauer steht – zumindest virtuell – der hypnotischer Einakter wieder auf dem Programm. Nicht im Münchner Prinzregententheater, sondern live getanzt auf der großen Bühne des Nationaltheaters.
Diesmal ohne flankierende Begleitstücke als rein kompaktes „Montagsstück XVI“ der Bayerischen Staatsoper. Ein sprunghaft geheimnisvoller, von Mördern, ihren Leichen und dem Geist einer ertränkten Studentin (Séverine Ferrolier als Elisa Lam) gepflasterter Parcours, der in seiner mit schwarzem Humor gespickten Begebenheitsdichte inhaltlich von hinten aufgerollt wird – so viel sei vorab verraten.
Allerdings kommen die abrupten Bühnenlichtschnitte daheim anders an. Digitalität und Theateratmosphäre sind eben zwei verschiedene Dinge. Das immer wieder auftretende Nichts im Bild bzw. auf dem Bildschirm kann einen schon in Panik versetzen nach dem Motto: Bin ich noch drin, steht die Verbindung noch? Außerdem fällt es schwerer, den roten Krimifaden nicht zu verlieren bei einer Kameraführung, die – was ja eigentlich schön ist – mehr Nähe zu den Protagonisten herstellt als bloß das Setting aus Lobby, Türen, angedeuteten Stockwerken, Aufzügen, Flur mit Läufer und überlaufender Wanne im Ganzen wiederzugeben. Dabei werden die Räumlichkeiten ständig neu aus verschiedenen Blickwinkeln bespielt. Zum Scheitern verurteilt, wer in diesem kriminologischen Entwirrspiel gedanklich zu früh aussteigt. Man darf keinesfalls aufhören, an den übers Parkett hagelnden Handlungssplittern, sich ständig überkreuzenden Aktionssträngen und innerlich getriebenen Figuren, die allesamt verdächtig auftreten, mit zu puzzeln.
Da der Münchner Hauschoreograf Kaydanovskiy derzeit parallel in Kleingruppen an seiner abendfüllenden Neukreation „Der Schneesturm“ nach einer Erzählung von Alexander Puschkin probt (Premiere am 16. April), gibt es ein Wiedersehen mit der fulminanten Originalbesetzung der Uraufführung vom Juni 2019 – damals im Rahmen der Reihe „À Jour – Zeitgenössische Choreographien“. Zuvorderst Jonah Cook als Jack und Ksenia Ryzhkova als Prostituierte. Was für ein Comeback für ein (auch privates) Paar nach einer Spielzeit in Zürich, gemeinsamem Kind und Ryzhkovas beachtlichem gestreamten Debüt als Odile/Odette in Ray Barras Corona-„Schwanensee“-Fassung im Dezember.
Jinhao Zhang und Carollina Bastos geraten als Serienmörder Richard Ramírez und Betty aneinander. Dass sie ihn im Kleiderschrank ihres Zimmers überrascht – oder umgekehrt – hat fatale Folgen. Schüsse fallen. Dann lässt der Mann den leblosen Körper der Frau in seinen Armen tanzen. Spielt quasi tote Maus mit ihr, bis ihm katzentypisch plötzlich die Lust daran vergeht. Robin Strona dagegen bleibt in seiner transsexuellen Aufmachung ein letztlich aus Versehen aus dem Fenster stürzender, larmoyant-suizidaler Einzelkämpfer. Herrlich! Alles gute Gründe, sich mal wieder einer nichtlinearen Erzählstruktur hinzugeben und von nicht stets logisch vorgeprägten Verbrechergehirnen in die berüchtigt-morbide Tristesse der tatsächlich in Los Angeles existierenden Hotel-Location entführen zu lassen.
Kurzfristig hatte sich zudem eine – sicherlich durch die Pandemie beschleunigte – Karriereentscheidung dazugesellt. Sie verleiht der Aufzeichnung weiteres Gewicht. Mit der Rolle des Lobby-Boys „stiehlt“ sich Halbsolist Dustin Klein, ein gebürtiger Landsberger, ganz still und ohne den Applaus des Publikums aus dem Bayerischen Staatsballett. Total hygienekonform mit einem Wischmopp als letztem Tanzpartner. Wie gruselig! Kann das wirklich der Abschied eines tollen Tänzers nach 13 Jahren am Haus sein? Ab sofort will sich Klein voll auf seine zweite, bereits gut angelaufene Karriere als Choreograph konzentrieren. Das macht Hoffnung, ihm in Oper oder/und Tanz noch oft zu begegnen, wenngleich dann als Drahtzieher hinter den Kulissen.
Gemeinsam mit Ausstatterin Karoline Hogl war das Timing der schnell ineinander übergreifenden Szenen perfekt an die neuen Raumbedingungen angepasst worden. Selbst wenn man dies im vorwiegend Dunklen so gut wie nicht realisiert. Dass die Produktion an den Max-Joseph-Platz umgezogen ist, merkt man lediglich anhand der optischen Einstimmung mit den Kameraschwenks über die Theaterfassade und die Ränge des verwaisten Zuschauerraums. Frust bereitet freilich, dass sich die Tänzer nicht einmal kurz verbeugen dürfen. Wozu dient eigentlich die findige Soundampel auf der Startseite des Streams, wenn die Übertragung einfach kalt abgedreht wird, ehe der Button „Applaus mit Bravo“ – heftig – angeklickt werden kann?
Andrey Kaydanovskiys „Cecil Hotel“ im Münchner Nationaltheater online Wiederaufnahme am 1. März 2021. Noch bis 3.4.als Video-on-Demand für 4.90 € (24-Stunden-Ticket) über www.staatsoper.tv verfügbar. Empfohlen ab 12 Jahren.