Physis – eingefroren in einem hyperdramatischen Moment. Emil Faskis „Othello“ beginnt und endet in dem Augenblick, als sich die Titelfigur – kernig-brillant getanzt von Emilio Pavan – mit einem Hechtsprung in den Dolch stürzt. Das noch Genialere am Erzählduktus des russischen Choreografen aber ist, dass er dieses Bild am Schluss um einige Sekunden zurückspult, bevor über seiner Uraufführung für den Premierenabend „Heute ist Morgen“ des Bayerischen Staatsballetts das Licht ausgeht. Ein Abend mit Sogkraft und Uraufführungen von Charlotte Edmonds, Özkan Ayik und Emil Faski.
Blutrot, weiß und schwarz sind die Farben dieser furiosen Shakespeare-Adaption von Emil Faski, die in lediglich 35-Minuten abendfüllenden Stoff gedehnt-rasant eindrücklich vor Augen führt. Schlicht bildgewaltig und in jeder Hinsicht wunderbar expressiv ausgetüftelt. Was hier einen insgesamt beeindruckenden Abend zeitgenössischer Choreografien abschließt, ist der ultimativ komplementäre Coup zu José Limóns „The Moor's Pavane“ aus dem Jahr 1949 – in München zuletzt 2014 gezeigt.
Beide Werke kommen mit lediglich vier Hauptprotagonisten aus. Während Limón diese in historisierend-modernem Tanzvokabular um die Taschentuchaffäre herum miteinander interagieren lässt, hat Faski den Fokus in Othellos Kopf hineinverlagert: in die letzten Sekunden vor seiner Selbsttötung, nachdem er Desdemona, obgleich unschuldig, ermordet hat. Toll übrigens, wie bei allen Figuren die typischen Charakterzüge einem zweiten subkutanen Kostüm gleich bei jeder Bewegungsphrase mitschwingen. Da kann Madison Young als Emilia ruhig technische Bravourakte vollführen. Gegen die perfide Dominanz von Jago (umwerfend bös-durchtrieben, nie an Größe, Weite und Wucht seiner Schrittartikulation sparend: Jonah Cook) hat ihr auschoreografiertes Wesen keine Chance. Das spürt man.
Othellos Eifersuchtstat selbst bleibt eine Fußnote. Stattdessen erwachen die Opfer der Intrige wieder zu Leben, plötzlich wirkungsvoll im hinteren Bühnenbereich zu sehen. Das sich von Zweifeln hin und hergerissene Zurückdenken scheint Othello unter retrodumpfen Klängen phasenweise schier von innen heraus zu zerreißen. Wie auch nicht. In der Rolle seiner nichtsahnend zauberhaft dahingetupften Desdemona muss man Ksenia Ryzhkova einfach erleben!
Faski hat ihrem schauspielerisch facettenreichen Naturell weit mehr als bloß liebesdurchdrungene Leichtigkeit zum Interpretieren gegeben. Dazu starke Musik von Schostakowitsch, Górecki und zuletzt Tribal Drums gewählt. Martialisch, wie dazu Othello und Jago – der hat da gerade Emilia, die reden wollte, erstochen – aufeinander losgehen. Ein Wurf, der nachhaltig Wirkung zeigt.
Dass Özkan Ayik – wir erinnern an seine gelungene Rollenkreation des Zampano in Marko Goeckes „La Strada“ am Gärtnerplatztheater – für das Staatsballett eine 15-minütige Arbeit kreiert, war ursprünglich ebenso wenig vorgesehen wie bei Faski. Beide kamen anstelle von Philippe Kratz und des in New York lebenden Yoshito Sakuraba. Kratz' Produktion konnte in die nächste Spielzeit verschoben werden. Was für ein Glück!
Man ist regelrecht geplättet von Ayiks Kunstfertigkeit, leeren Raum abstrakt, dabei mittels gewiefter Formationen sprechend-spannungsgeladen zu bespielen. In „Tag Zwei“ zu elektronischen Sounds des Musikers Loscil macht er das mit sechs schwarz wie die Bühne gekleideten Tänzern. So können Maria Chiara Bono, Margarita Grechanaia, Mia Rudić, Nikita Kirbitov und Sergio Navarro im Stück zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit dahingleiten. Auch wenn man sich wünschte, sie ob ihrer tänzerischen Perfektion in hellerem Licht bewundern zu dürfen.
Nervös-exzentrischer Vortänzer ist der erst seit Frühjahr 2021 im Corps de ballet engagierte Kanadier Shale Wagman, der auch in Sharon Eyals „Bedroom Folk“ bestens besetzt ist. Ayik versetzt diesen vor Energie überbordenden Tänzer derart zackig in Bewegung, dass man dahinter durchaus den Einfluss von Goecke merkt. Der ist jetzt Chef des Staatsballetts Hannover, zu dem Ayik gewechselt ist. Nichtsdestotrotz atmet sein von intensiver Armgestik und dazwischen am Hinterkopf mit abstehenden Ellbogen ruhig angedockten Handflächen durchaus eigene Originalität. Unwichtig, was man als inhaltlichen Kern herausdestilliert. Wir sollten versuchen, den Fluss des Lebens positiv zu nehmen. Eine lichte Erkenntnis, die aus einer Art Nachtstück rührt.
Ob die in London ausgebildete Charlotte Edmonds den in Stuttgart beheimateten Eric Gauthier und dessen „Ballett 102“ (unter anderem Repertoirebestandteil des Junior Ballett München) kennt, in dem die Tänzer von einer Stimme aus dem Off zu Spagatleistungen aufgefordert werden? Wir wissen es nicht. In einer Solosequenz jedenfalls bedient sie sich derselben Masche. Wobei der Programmzettel verschweigt, dass der sich immer wieder in den Verlauf der Choreografie einmischende Sprecher mit Schweizer Sprachidiom in der Kompanie die Dramaturgie verantwortet.
Edmonds ist 25 Jahre jung und präsentiert zum Auftakt einen eigenwillig bunten Beitrag, ohne in ihrer Ausstattung jemals schrill zu werden. Im Gegenteil. In „Generation Goldfish“ flutscht alles im Wechsel gedimmter Unterwasser-Lichtstimmungen. Wir tauchen ab in eine sechsköpfige Fischglas-WG mit persönlichen über die Bühne verteilten Wohlfühlinseln: Bad mit Wanne, Schreib- bzw. Küchentisch, Sofa mit Bügelbrett und TV-Gerät oder Stuhl nebst Zimmerpflanze. Mittendrin Marina Duarte, Navrin Turnbull, Severin Brunhuber, Rafael Vedra, Carollina Bastos und Vera Segova, deren mal solistisch, mal im Duett respektive im Schwarm zusammengefasste Tagesabläufe blubbernde, glucksende und hörbar gurgelnde Kollagen von Katja Richardson bestimmen.
Kein Scherz, hier wird einem wohldurchdacht Menschlichkeit von Fischwesen mit paddelnden Gliedern, elegant-kräftigem Beinschlag und filigran zitternden Flossenhänden präsentiert. Die Körper schweben, schlängeln oder driften sanft auf Spitzen durch das Ambiente. Es gibt auch eine herrliche Nummer mit der Wanne. Und es sieht fantastisch aus.
Bayerisches Staatsballett „Heute ist Morgen“ am 24. Juni 2021 im Prinzregententheater.