Wie nähert man sich einem so komplexen Thema wie der Zeit? Welche Aspekte sollten wie einer Betrachtung unterzogen werden? Und wie wirkt Zeit? Welche physikalischen, physischen und psychischen Mechanismen beeinflussen die Wahrnehmung der Welt, in der wir leben und unser Leben in ihr? Welche Rolle spielen Raum und Schwerkraft dabei? Und welche künstlerischen Werkzeuge scheinen geeignet? Meg Stuart ist mit ihrer Performance „Cascade“, die nach achtmaliger pandemiebedingter Verschiebung nun bei ImPulsTanz endlich ihre Uraufführung erleben durfte, ein beeindruckender Versuch gelungen.
Nur leicht Theaternebel-getrübt ist der Blick auf die Bühnen-Landschaft, wie das Lichtdesign entworfen vom französischen Theaterregisseur, Szenografen und bildenden Künstler Philippe Quesne. Zwei riesige Blasen links suggerieren eine Außenansicht auf ein Multiversum. Rechts eine weiße Rampe, oben hängen zwei Netze wie mit Felsblöcken gefüllt, hinten und seitlich ein Vorhang. Mit der Innenansicht eines Universums. Die zwei Schlagzeuge und das Elektronik-Pult vor der Bühne rahmen ein großes schwarzes weiches Ebenes. Sound und Musik, teils vorproduziert, teils live, stammen von Brendan Dougherty, der mit Philipp Danzeisen auch die Live-Perkussion beisteuert. Die Texte entstanden gemeinsam mit Tim Etchells.
Die sieben Performer*innen nehmen sich viel Zeit. Die brauchen sie auch für ihre Kaskaden. Und die fordern sie vom Publikum ein. Ganz Meg Stuart scheint es nur einen groben dramaturgischen Rahmen zu geben, innerhalb dessen viel Raum (und Zeit!) für Improvisation entsteht. Unsicherheit wird zum Grundgefühl. Ungewissheit über das Kommende wird zum Plan des Lebens. Aus dem Gleichgewicht zu geraten, in die Knie zu gehen, zu stolpern und zu fallen, eine Balance und Halt, in Ritualen, aneinander oder an der Welt zu suchen, wobei sie sich zuweilen auch ver-suchen, das Spiel mit der Schwerkraft stärkt sie. Die Anstrengung führt nicht in die Erschöpfung. Nach langer Stille transformieren sie sie in Hoffnung. Mit dem Mut von Kaskadeuren lassen sie sich fallen in ein schließlich euphorisches Leben und Erleben ihres eigenen Rhythmus.
Der individuell erfahrenen Zeit wird eine in den Dimensionen von atmenden Universen zur Seite gestellt. Die Relativität und Volatilität der empfundenen Zeit und damit ihren illusorischen Charakter und dessen Akzeptanz als Basis schöpferischen Umgangs mit ihr zu installieren gelingt über das Zusammenspiel von Musik und Tanz. Die Interaktion der teils treibenden Rhythmen der Musik, vor allem der Drums, synchron oder auseinanderlaufend, mit den individuellen und Gruppen-Rhythmen der Tanzenden führt zeitweise ins Rauschhafte.
Jeder lernt, auf seine Weise mit dem Phänomen Zeit umzugehen. So wie ein rückwärts im Kreis Laufender der Gerichtetheit der Zeit zu widersprechen scheint. Unterschiedliche (Lebens-) Rhythmen koexistieren. Allen gemeinsam ist der Optimismus, gewachsen mit den vielen Erfahrungen von Scheitern und Neubeginn. Das Scheitern gehört zu diesem Spiel, zum Leben. Es ist unvermeidbar. Die Kraft für das wieder Aufstehen wird schon mit der Energie des Fallens genährt. Die Mühsal des ständigen Versuchs wandelt sich in Akzeptanz, aus der Opfer-Haltung wachsen sie in die Selbstermächtigung, aus der festen Überzeugung von der Linearität der Zeit wird ein Leben in und mit der Illusion.
Dass einigen Wenigen die Zeit zu lang wurde, dass am Ende sogar vereinzelte Buh-Rufe den Beifall durchsetzten, mag an dem ausgeschlagenen Angebot, für fast zwei Stunden, jede Distanz überwindend, in das Stück einzutauchen, gelegen haben. Wie hämisches Gelächter jedenfalls klingt es zum Ende einer äußerst komplexen, intensiven, großartigen Performance aus den Boxen. Ist es Gott, der da lacht? Oder das Universum? Oder gar wir über uns selbst?
Meg Stuart / Damaged Goods „Cascade“ am 17. Juni 2021 im Volksthater im Rahmen von Impulstanz