Nach seinem Studium des klassischen und modernen Tanzes tanzte Guilherme Botelho im Ballett seiner Heimatstadt São Paulo, bevor er 1982 für 10 Jahre ans Genfer Ballett ging. Dort gründete er 1994 seine Kompanie Alias, mit der er seit dem gut 25 Produktionen weltweit aufführte. Alias hinterfragt mit ihren Arbeiten unreflektiert gelebtes Leben, sucht andere Perspektiven auf das Gewöhnliche und Gewohnte. Mit „Sideways Rain“ und „Normal“ präsentierte Botelho an aufeinander folgenden Tagen zwei vielschichtige Arbeiten.
„Sideways Rain“: Es geht Vorwärts! Nur warum, und wohin?
Auf Füßen und Händen krabbeln die Ersten ganz langsam aus dem Dunkel dem schwachen Licht rechts entgegen. Mehr und mehr folgen. Der Sound ist dunkel wie die Quelle, die die Vielen ins Licht entlässt. Und es werden immer mehr. Die 15 Tänzer*innen befinden sich in einem ständigem Kreislauf. Backstage zurück nach links, auf der Bühne nach rechts. Dadurch und mit während der Performance gewechselten Kostümen erzeugt Botelho den Eindruck eines Stromes von unendlich vielen Menschen, die alle das gleiche Ziel haben. Aber das jeder für sich.
Die Art der Bewegungen auf dieses Ziel zu und deren Geschwindigkeiten ändern sich fließend. Aus dem Krabbeln wird ein Rollen, Kriechen, Gehen, Rennen, Drehen, Wälzen. Schneller bis zur wilden Hatz, langsamer, wieder beschleunigend, immer, im heller werdenden Deckenlicht, dem unsichtbaren Ziel entgegen. Nur selten hält jemand inne, lässt sich alsbald schon wieder mitreißen von der Flut der Vorbeiströmenden oder vom Sog des Lichtes oder von einem inneren, unwiderstehlichen Drang.
Interaktion zwischen den Eilenden gibt es nur ganz selten. Wenn ein Verweilender eine Vorbeihastende aufhält, sich und sie nach dem Sinn ihres Tuns zu befragen scheint. Doch weiter geht es, muss es gehen. Und wenn, nur zwei Mal, zwei wie ein Paar gemeinsam rennen. In der nächsten Runde hat sich dann schon alles wieder aufgelöst. Sie schauen auch zurück. Dann rückwärts laufend wird das „woher sie kommen“ kurz ein Thema. Dennoch. Es muss vorwärts gehen!
Der elektronisch erzeugte Sound von Murcof (Fernando Corona) hängt mit seinen dunklen und sich stetig verändernden massigen Flächen, die zuweilen ins Bedrohliche gleiten, dem Geschehen einen trotzdem warmen akustischen Mantel um. Das Lichtdesign stammt von Jean-Philippe Roy.
Guilherme Botelho gelingt mit „Sideways Rain“, dem bereits 2010 in Genf uraufgeführten dritten Teil seiner Trilogie „Distanĉia“, eine treffende Parabel auf das besinnungslose Vorwärtsdrängen nicht nur des Individuums, sondern auch der vergesellschafteten Masse, die diese Maxime für den Einzelnen wie für die Gesellschaft vorzugeben scheint. Fragen nach dem Ziel und dem Sinn dieses Strebens werden nicht gestellt. Sie dürfen nicht gestellt werden. Zweifler zu überrollen ist Aufgabe der Menge, in der das anonymisierte, atomisierte Individuum seinem ureigenen, dem immer gleichen Ziel aller, entgegenstrebt. Im ewigen Kreis-Lauf des Lebens.
Zum Ende hin ziehen sie Fäden mit sich über die Bühne. Straff gespannt und immer mehr davon entstehen Gassen, die ein Entkommen unmöglich machen. Schließlich nackt und mit langen Schritten springend, erreicht die Dringlichkeit des Treibens der Getriebenen und ihre Bewegung in einem Raum von unendlich vielen Möglichkeiten und Wirklichkeiten ihren Höhepunkt in einem starken Bild. Ein Bild aber auch für die viel zu Vielen, die ihre Angst vor dem Leben in das enge Reglement der schützenden Herde treibt. Und schon, zu einem abschließenden Klavier-Akkord, kommen wieder zwei gekrochen ...
„Normal“: Viele kleine Tode
Sie fallen um und stehen wieder auf. Eine Stunde lang. Das könnte sich ziehen. Tut es aber nicht. Ganz im Gegenteil. In dem 2018 entstandenen Stück „Normal“ lässt Guilherme Botelho sieben Tänzer*innen auf einer leeren Bühne das eigentlich immer Gleiche tun. Jedoch in subtil, schleichend sich ändernden Variationen.
Wenn die Tänzer*innen vor das Fallen kleine, bald auch deutlichere Gesten stellen, wie ein kurzes Zittern, Nicken, Knicksen, Wenden des Kopfes, eine Hand zur Wange Führen, weites Zurückbeugen, auf die Brust Schlagen, Lachen, stilles Schreien, wie Einschlafen, ein Ausstrecken des Armes, ein Lächeln ins Publikum, eine angedeutete Bekreuzigung wird erkennbar, dass es hier nicht um die ewige Wiederkehr des immer Gleichen geht, sondern dass über die Modulation Transformation eingeleitet wird. So wie die Gruppe, anfangs dicht beieinander agierend, ganz langsam über die Bühne wandert, sich öffnet, um später wieder zusammenzurücken. Aus einem anfänglichen Gezogen werden, aus Verweigerung und Widerstand wird Akzeptanz, Zulassen und schließlich Hingabe, aus passiven Opfern werden kreative Gestalter, das Mysterium Zyklik bewundernde, anbetende, freudvoll Genießende.
Sich fallen lassen und sich wieder aufrichten wird zur Metapher für das Zyklische als Lebensprinzip. Die Atmung, der Tag-Nacht-Rhythmus, der Kreislauf der Gezeiten und der Jahreszeiten, das Werden und Vergehen auch des menschlichen Lebens sind Metronome verschiedenen und variierenden Taktmaßes. Der Herzschlag spielt in der Musik, auch hier von Murcof (Fernando Corona), eine wiederkehrende Rolle. Erregt oder entspannt hallt er nach in das Kommende. In größeren Zyklen wiederholen sich ganze Abschnitte der Komposition, feine Variationen aber lassen sie anders, neu klingen. Tanz und Musik gemeinsam entfalten in „Normal“ eine geradezu hypnotisierende Wirkung.
Die vielen kleinen Tode, die die Tänzer*innen auf der Bühne sterben, sind immer auch Geburt. Denn „jedem Ende wohnt ein Anfang inne“. Das Neue, das aus dem Vergangenen entsteht, ermöglicht Veränderung. Leben ist Veränderung. Ohne sie ist es kein Leben (mehr). Das Lebensbejahende, Gesunde, Progressive am Sterben dieser Tode wirkt auch in Dimensionen, die unser jetziges Leben einschließen. Die abstrahierte Ebene der Darstellung des Lebens im Zeitraffer zielt auf unmittelbares Er-Leben seiner eigenen Zerbrechlichkeit, des aus der Balance Geratens, der Instabilität allen Seins. Und mündet in Freiheit, Ruhe und inneren Frieden. Durch Hingabe an das Leben. Und durch das Überwinden der die westliche Philosophie und mit ihr unser Denken und Fühlen so prägende Polarität. Mit dem östlichen Sowohl-als-auch.
Ein kurzes Video am Ende zeigt eine alte Frau, die einen Witz erzählt. Wie Einstein nach seinem Tod vor Gott tritt und ihn nach dem die Welt beherrschenden Prinzip fragt, nach welchem er sein Leben lang gesucht hatte. Gott schreibt eine lange Gleichung auf, in der Einstein einen Fehler zu entdecken vermeint. „Das wiederholt sich aber!“ Und Gott antwortet: „Genau.“ Sie fallen im Dunkeln noch ein wenig weiter. Das Publikum dankte euphorisch.
Guilherme Botelho /Alias Cie: „Sideway Rain“ am 20. Juli „Normal“ am 21. Juli im Akademietheater im Rahmen von ImpulsTanz