Wir leben weiter. Weiter so. So lange wir es können. Und noch ein Stück darüber hinaus. Mag es kosten, was es will. Wir tun ja, was wir können. Oder doch nur, was wir wollen? Auch die bereits 2004 uraufgeführte Arbeit „Umwelt“ der französischen Choreografin Maguy Marin, damals als überzogen heftig kritisiert, hat daran nichts geändert. Die Erstaufführung der Reprise des Stückes bei ImPulsTanz '21 beschreibt mit ungeheurer Wucht den fortschreitenden Zerfall einer Welt. Und dessen Ursachen.
Alles, was wir fühlen und erleben, wirklich alles, könnte uns zeigen, wer wir sind. Wenn wir erkennen und akzeptieren würden, dass wir immer nur in Spiegel schauen. Doch die Spiegel sind matt, beschlagen, werden zerschlagen, und sich hinter ihnen zu verstecken ist allemal angenehmer als hineinzusehen. All die Spiegel auf der Bühne verdecken das Alltägliche, Gewohnt-Gewöhnliche. Zwischen ihnen scheint es auf. Für Sekunden wird es sichtbar. Die neun Performer*innen erscheinen in Alltags-Kleidung, immer nur wenige von ihnen zeigen sich kurz zwischen den in mehreren Reihen aufgestellten übermannshohen Spiegeln, die von einem Sturmwind umtost werden. Dieser Wind und vorn auf der Bühne drei E-Gitarren, über die langsam ein aufgerolltes Seil gezogen wird, verursachen ein höllisches Getöse (Sound von Chloé Barbe).
Sie setzen sich eine Krone, die der Schöpfung, auf, die später juckt und drückt, tragen Müllsäcke, zeigen mit dem Finger, küssen sich, tragen drei Bäume vorbei, setzen sich blaue Hütchen wie Blauhelme auf, herzen ein Baby, tragen Handschellen, sind Detektive mit Taschenlampen, hüllen sich in lange Tücher und asiatische Morgenmäntel, Perücken, Hüte, grüne Mäntelchen, Stahlhelme, Zigaretten, Gitarren, Ohrfeigen, Erkältungen, verschnupft mit Krone, ziehen sich die Hosen hoch nach dem sich Entleeren, Weißkittel, Liebe, Abendkleider, Tablett mit Weingläsern, Ausspucken, Rauferei, Geweihe, blaue Latzhosen, Blumen in Folie, Faustschläge, Wasser trinken, Schuhe anziehen, Haare trocknen, schimpfen, hektisches Putzen, Geld zählen, Wein trinken, Geschenkpapier, Tabletten schlucken, Schweinehälften, nackte Frauen auf den Schultern, Messer wetzen, Pistolen, Urlaubsfotos, Bücher, Aggression, töte Vögel ziehen, „We are together“ rufen sie, griechischer Tanz, Knochen wegwerfen, mit Hasenohren auf den Köpfen Karotten nagen, Brot zerbröseln, das andere vom Boden essen, Ikonen vorm Gesicht, Krieg, Lust, Gewalt gegen Frauen, Schutt auskippen, Babies treten, riesige Stoffpuppen herzen … Sie tragen den Globus unterm Arm. Wie einen Kopf.
Bereits jede, auch die banalste Sequenz für sich, in größeren Zyklen präsentiert, variiert und verschärft, ist ein Bild, dessen metaphorischer Gehalt sich durch die im Verlaufe der Performance verschobene Kontextualisierung ändert. Und Maguy Marin erspart uns nichts. Schon das Essen eines Apfels wird zum Politikum. Anfangs gesunde Ernährung, selbstherrlich und -zentriert zelebriert, pervertiert mit dem später gezeigten verächtlichen Ausspucken auf all den anderen zivilisatorischen Müll. Es wird, wie so vieles Andere, zum Symbol für verantwortungs- und rücksichtslos gelebten, blinden, dummen, zerstörerischen Egoismus auf einer dadurch so gefährdeten Erde. Die das schlechte Gewissen und die physischen wie die psychischen Schmerzen lindernden Kompensationen mischt Marin ein in die Ursuppe der Zerstörung, die am Ende als Müllhalde vor uns liegt.
Der gesamte Wertekanon der menschlichen Zivilisation, egal, ob ökonomisch, politisch, religiös, gesellschaftlich, historisch, sozial oder psychologisch begründet, und vor allem das Selbstverständnis des Menschen werden relativiert, in Frage gestellt und auf einen Aspekt hin geprüft: Wie wirkt das, was wir denken, reden und tun auf unseren Planeten? Und wir kommen gar nicht gut weg dabei. Was das Lichtdesign von Alexandre Béneteaud noch unterstützt: Die immer lauter, schneller, chaotischer, komplexer werdenden Zyklen der Performance trennt eine Phase, in der ein*e Performer*in, ruhig zwischen den Spiegeln stehend, von der Bühne ins Publikum schaut, das von Mal zu Mal heller beleuchtet wird.
Die Komposition des Stückes macht es so wirkungsvoll. Die Fragmentierung einer instabilen, variablen Wirklichkeit und die Verschränkung der Bruchstücke wie ebenso die der Aspekte einer hochkomplexen Realität als ein sich beschleunigender Prozess erzeugen eine ungeheure emotionale Gewalt, eine lang anhaltende Erschütterung. „Umwelt“ ist ein Meisterwerk!
Nach der Vorstellung, direkt vor dem Volkstheater, fröhlich hüpfende Besucherinnen und auf einer Baumaschine zurückgelassene Getränkedosen und -flaschen. Das bindet Bühne und Welt, Kunst und Leben, Vision und Wirklichkeit. Und macht unendlich traurig.
Maguy Marin: „Umwelt“ am 22. und 24. Juli 2021 im Volkstheater Wien im Rahmen von Impulstanz