„Tanz gibt dir nichts zurück … nichts als diesen einen flüchtigen Moment, in dem du dich lebendig fühlst.“ zitiert sie Merce Cunningham. Mit Louise Lecavalier war eine ganz Große des zeitgenössischen Tanzes wieder einmal zu Gast bei ImPulsTanz. Ihr jüngstes Stück „Stations“ erlebte hier seine Österreichische Erstaufführung. Eine Stunde Tanz auf allerhöchstem Niveau.
Wofür sie berühmt geworden ist und was zu wiederholen sich jeder Text über sie bemüht, ist lange her. La La Human Steps, David Bowie und Frank Zappa … Deswegen nicht weniger wert, aber: Stationen. Dann, 2006, ihre eigene Kompanie „Fou Glorieux“, mit der sie sich die Freiheit erwarb, sich mit eigenen Arbeiten, Soli und Duetten, auf die zentralen Themen ihrer Kunst zu fokussieren. 2018 zeigte Cavalier ihr Duett „Battleground“ bei ImPulsTanz, in dem sie das Dunkle aus sich aufsteigen lies. Die inneren Dämonen, die sie versuchte zu unterdrücken, mit denen sie kämpfte, machte sie schließlich zu Freund und Partner.
Aus einem solchen Dunkel kriecht sie für ihr Solo „Stations“. In vier Teilen erzählt die Kanadierin Louise Lecavalier, inzwischen, wenn man sie tanzen sieht, unglaubliche 62 Jahre alt, von Befindlichkeiten, Zuständen. Das Leben ist ein Prozess. Mit Phasen und Meilensteinen, Höhen und Tiefen, Aufenthalten und Weiterkommen. Die erkennbar abgegrenzten, dennoch fließend miteinander verbundenen Tänze beschreiben Fluidität, Kontrolle, Meditation und Obsession. „Körperzustände“, wie die Ankündigungen zu berichten wissen. Was tatsächlich passiert, ist ein „Seelen-Striptease“.
Die Bühne wandelt sich im Lichtdesign von Alain Lortie. Vier Säulen in den Ecken geben verschiedenfarbiges Licht, fungieren auch als Ladestands-Anzeigen, Stimmungsbarometer. Seiten- und Decken-Strahler, Teppiche und Boden-Strukturen schaffen Raum und Rahmen für das Eigentliche, den Tanz. In schwarzer Glockenhose, schwarzem Top und zwischendrin mit schwarzer Lederjacke (Kostüm: Yso, Marilène Bastien).
Getrieben von der rhythmusbetonten Musik (Arrangement von Antoine Berthiaume), insbesondere vom Saxophon-Virtuosen Colin Stetson, lässt sie ihr Inneres in Bewegung fallen. Von der seitwärts schwebenden Leichtigkeit geht sie in rastlose Konfusion, Selbstzweifel, Angst vor Rückschritt und Erschöpfung. Die Akkus sind fast leer. Ihr Wille, weiter zu machen, treibt sie vorwärts. Von Lichtquadrat zu Lichtquadrat. Kleine Ziele setzen. Auch ins außen stellt sie sich, zu schauen, wo sie steht. Wie sie im dritten Teil dem Animalischen, Unbewussten, Bauch und Herz Bedeutung gibt und ihnen gemeinsam mit der Ratio Flügel verleiht, ist großartig. Dem Gesang der Sirenen, Erfolg und Anerkennung zu widerstehen treibt sie fast in den Wahnsinn. Besessenheit im vierten Teil. Die Hände schwirren um einen fast explodieren Kopf, es treibt sie vorwärts, in die Eile. Das zweite Bein auf den Boden zu setzen, anzukommen, scheint ihr noch nicht gelungen. Ist auch nicht ihr Ziel. Des Lebens Ruf an uns will niemals enden …
Im Finale, zum Song „Nerissimo“ von Teho Teardo und Blixa Bargeld („...Yes I sing what I sing best. Black. The blackest. Until it gets to the other side. And there's no more, No more darkness left.“) regnet warmes Licht auf sie herab. Sich zurückziehend in das Dunkel, aus dem sie kam, verwischt sie alle Spuren hinter sich.
Die Physikalität der Louise Lecavalier ist von einem sehr selten anzutreffenden Niveau. Die Anstrengungen im Fitnessstudio machen sich bezahlt. Mühelos steht sie die Stunde durch. Jede Faser ihres Körpers scheint durchdrungen von dem Willen, Gefühlen ein Bild zu geben. Jeder Move ist eine Offenbarung. Sie zieht sich eine Jacke an, wie zum Schutz. Den es nicht gibt. Nichts mehr verdeckende Offenheit, absolute Ehrlichkeit, mit der sie ihr von allem Zierrat befreites Intimstes auf die Bühne gießt. Tanz, von einem göttlichen Funken entzündet, glühend, voller Leidenschaft, Virtuosität und Expressivität, brennend mit der scheinbar nie versiegenden Kraft und Vitalität einer immer noch reifenden, außergewöhnlichen Künstlerinnen-Persönlichkeit.
Louise Lecavalier: „Stations“ am 29. und 31. Juli 2021 im Wiener Akademietheater im Rahmen von ImpulsTanz