Tief beeindruckt von dem, was der belgische Choreograf, Tänzer, Filmemacher und Fotograf Wim Vandekeybus auf einer Reise in die rumänischen Karpaten erlebte und erfuhr, musste er, mehr als er wollte, ein Stück machen, in dem er Geschichten von der Abholzung der letzten Urwälder Europas mit all ihren Konsequenzen erzählt, von Bären und Nomaden. Entstanden ist großes Tanz-Theater in opulenten Bildern, hier als österreichische Erstaufführung gezeigt.
Der Titel „Traces“ ist vieldeutig. Er meint die Spuren im Gedächtnis und im Herzen des Choreografen, die Verwundungen, die sich Natur und Mensch gegenseitig beibringen, die Spuren menschlicher Verkehrsadern in der Natur, die des Kahlschlages im Wald, die Auswirkungen auf dessen Fauna, die Spuren nomadisch lebender Menschen und der Integrationsversuche der Sesshaften, die, die Begegnung von Kulturen hinterlassen, die von Gruppendynamik, von Verantwortungslosigkeit und ihrem Widerpart, die Spuren unserer animalischen Herkunft in uns.
Die Straße, die quer über die Bühne verläuft, teilt. Die Wildnis, die „zivilisierten“ Sesshaften von den nomadisch lebenden Roma, Mensch und Natur. Vorbeirasende Autos. In Containern und mit Zivilisationsresten lebende Menschen. Schreie. Blinde Wut, Verzweiflung, Blut. Ein Bär erscheint. Und schon fühlt man eingesaugt. Zwei nackte Männer tanzen mit Plastikkübeln auf dem Kopf und der andere am Bein wilde Versuche, sich dieser Lasten zu entledigen. Erst nach langen Mühen soll es gelingen. Mit der Hilfe Anderer. So liegt doch noch ein Schimmer von Hoffnung über dem fast aussichtslosen Kampf Weniger gegen die menschengemachte Vermüllung der Welt.
Eine Umwelt-Schützerin im grünen Kleid, Freundin und Vertraute der Bären, stellt sich ganz allein schützend vor die Bären und gegen die rücksichtslose Entwaldung. Die Vernichtung des Lebensraumes der Bären zwingt diese in die Nähe menschlicher Siedlungen, wo sie zur Gefahr werden für Menschen und deren Tiere. Sie töten einen Hund, der Teil einer von einem selbstgewählten Führer zu gehorsamen Hunden degenerierten Gruppe von Menschen war.
Vandekeybus erzählt von der alten rumänischen Tradition, junge Bären ihren Müttern zu entreißen und sie auf heißen Platten zu Tanzbären „auszubilden“, die schließlich, Pawlow beschrieb es in seinen Entdeckungen, zu tanzen beginnen, sobald die Geige nur erklingt. Einer Fremd- und Andersartigen mit dunklerer Haut, die einen Teddybären gebiert (die Bären gelten auch als Symbol der Erneuerung), den die Meute in die Tonne wirft, sie tanzt ein Solo voller Schmerz und Klage, werden ihre hochgereckten Arme weiß getüncht. Integrationsmaßnahme. Sei wie wir. Weiß. Die weißen Arme der Vielen, die dann kommen, werden zu Geweihen von Rehböcken, die damit in den Kampf der Waldbewohner um die knapper werdenden Ressourcen ziehen. Was in einen Kampf der Kulturen und Religionen mit- und gegeneinander fließt.
Oft wandelt Vandekeybus seine Bilder, gibt ihnen Mehrdeutigkeit. Wie auch mit dem Durchbrechen der Straße. Die Performer*innen putzen eine Schneise in die weißen Grenzlinien. Sie scheinen der Natur wieder etwas Raum zu geben, das einstmals Getrennte wieder zu verbinden. Denkste. Es wird eine kreuzende Straße gebaut, auf der sich bald die Kulturen begegnen, mischen, befruchten.
Gruppendynamische Effekte und Prozesse spielen in „Traces“ eine dominante Rolle. Intuition als Impulsgeber, irrationale Ursachen von Aktion und Reaktion bestimmen das Miteinander in der Gruppe. Die zehn Performer*innen der Kompanie Ultima Vez rennen, schreien, spielen, weinen. Und sie tanzen auf einem Niveau, das Maßstäbe setzt. Die Energie, mit der sie ihren Instinkten zum Leben verhelfen, ist beeindruckend. Gemeinsam mit den beredten Bildern (Bühnenbild: Wim Vandekeybus und Tom de With), dem Lichtdesign (Wim Vandekeybus, Francis Gahide), ihren Kostümen (Isabelle Lhoas) und der klassischen bis rockigen Musik (Gitarre: Marc Ribot, Originalmusik von Trixie Whitley, Shahzad Ismaily, Ben Perowsky, Daniel Mintseris) entsteht ein komplexes, dynamisches, hochenergetisches Werk, das die zu Engagement gewordene Betroffenheit des Choreografen in den Saal strahlt.
Der letzte der gefällten Bäume erschlägt einen Menschen. Denn was wir dem Anderen antun, tun wir uns selbst an.
„Traces“ geht das Thema Umweltzerstörung auf völlig andere Weise an als Maguy Marin in ihrer zehn Tage zuvor gezeigten Arbeit „Umwelt“. Ihre Intention jedoch vereint beide Werke.
Wim Vandekeybus / Ultima Vez: „Traces“ am 3. August 2021 im Wiener Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz.