Für die inzwischen 81-jährige und immer noch aktive Ikone der Postmoderne Lucinda Childs – sie bereitet gerade ihr neuestes Stück vor – mag es ein Segen sein, eine ebenfalls im zeitgenössischen Tanz aktive Nichte zu haben. Die in der Schweiz lebende Ruth Childs zeigte an einem Solo-Abend fünf Miniaturen ihrer Tante, zwei Filme und drei direkt an sie weitergegebene frühe Choreografien.
Im Film „Calico Mingling“, 1973 auf einem großen leeren Platz in New York aufgenommen, bewegen sich vier Tänzer*innen in geometrischen Figuren. Ohne Musik erhält das Stück seine Rhythmik durch die Zahl Sechs, der vollkommenen Zahl des Glücks, der Harmonie, des Gleichgewichts und der Kraft, des magischen Hexagrammes und der biblischen Schöpfungsgeschichte, und ihrer Vielfachen. Kreise und Linien im Gleichschritt mit wechselnden Synchronizitäten, erscheint diese Choreografie wie eine Studie für ihre zehn Jahre später entstandene große Bühnenarbeit „Available Light“, in der auf zwei Ebenen positionierte Tänzer*innen nach dem selben Prinzip tanzen. Dynamiken im Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft.
In Lucinda Childs' erstem Solo „Pastime“ von 1963, live performt von Ruth, benutzt die Tänzerin, nachdem sie zum Plätschern von Wasser auf einem Bein stand, vorgebeugt, die Arme breit auf dem Boden und mit nach hinten gestrecktem Bein, einen dehnbaren ringförmigen grauen Stoff, in den zwischen Schultern und Füßen gespannt sie mit Assoziationen spielt. Wie aus einer Badewanne oder einem Boot streckt sie ihr Bein in die Höhe und ertastet daneben mit den Zehen den Boden. Oder das Wasser. Dann dreht sie die Anfangspose. Aufrechter Stand, ein Bein vorgestreckt, die Arme breit und hoch. Ambivalenzen.
Ein Hocker und ein Tisch, auf dem ein Korb mit bunten Schwämmen steht. In „Carnation“ aus 1964 ordnet Ruth Childs bunte Schaumstoff-Rollen und -Platten vor sich auf dem Tisch zu vier gleichen Figuren. Platte – vier Rollen – Platte. Auf dem Kopf den Korb, in den sie die Rollen steckt. Wie zu einer Nelken-Blüte? Und es zelebriert. Die 16 Rollen, zwischen die in den Mund gesteckten Platten mit fahrigen Händen gestopft, enden ausgespuckt in ihrem Klotz am Bein, einem blauen Plastiksack an ihrem Fuß, aus dem sie, in den Kopfstand gehend, mit dem Fuß ein weißes Tuch zieht, mit dem sie sich kopfstehend und liegend viereckig aufgespannt verdeckt. Den vor uns gestellten Sack besteigt sie, strahlend, zweifelnd. Mehrmals anlaufend rollt sie über ihn mit der Andeutung klassischen Bewegungsmaterials in den Stand. Überträgt sie mit der Zahl Vier, der Zahl der Ganzheit, der vier Elemente, Jahreszeiten, Mondphasen, nur ihre mathematisch-formale Stringenz beim Choreografieren auf Objekte?
Von 1978 ist der Film „Katema“, in dem Lucinda Childs in einem leeren Saal im Kunsthaus Zürich diagonal auf und ab geht. Immer wieder neu beginnend, verschieden weit, mit leichten Variationen ihrer Bewegungen. Drehungen und schwingende Arme. In der Flexion liegt Reflexion, in der Wiederholung die unermüdliche Suche nach Möglichkeiten des Selbstausdruckes. Beeindruckend.
In ihrem „Museum Piece“ von 1965, live performt von Ruth, taucht Lucinda in das unvollendete, neoimpressionistische Gemälde „Le Cirque“ von Georges Seurat aus dem Jahre 1891 ein, um es zu beschreiben. So der Programm-Text. Ruth verteilt bunte Scheiben auf der Bühne und erklärt, dass die hier verwendete Technik inspiriert sei von den Impressionisten, die Farben auslegten, um die Stimmungsaspekte einer Tageszeit oder eines Tages einzufangen. Sich mit einem Handspiegel rückwärts bewegend schaut sie die Farbscheiben aus verschieden Winkeln an, im Spiegel über ihre Schultern. „Auch John Cage war interessiert an verschiedenen Perspektiven.“ „Das Gemälde einer Ballerina“: Sie legt sich bäuchlings, nach oben gebogen auf einen Hocker und strahlt ins Publikum. Von drei verschiedenen Orten auf der Bühne. Auf durchaus humorige Weise übersetzt Lucinda Childs hier ihre schon früh entwickelte choreografische Methode der fortwährenden, subtilen Variation des eingesetzten (Bewegungs-) Materials in eine „Parallelwelt“, in die der bildenden Kunst.
Alle Arbeiten außer „Carnation“ werden erstmalig außerhalb der USA gezeigt. Auch das beschreibt die Bedeutung dieses Abends, mit dem große Tanzgeschichte, respektvoll und doch persönlich geprägt erlebbar gemacht wird. So wie die ebenfalls bei ImPulsTanz gezeigten Arbeiten zum „Kosmos Wiener Tanzmoderne“, die insbesondere das Erbe von zwischen den Kriegen in Wien tätigen Choreografinnen pflegen.
Ruth Childs / Lucinda Childs – Scarlett’s am 9. August 2021 im Wiener MuTh im Rahmen von ImPulsTanz.
Ruth Childs zeigt ihre eigene Arbeit „Fantasia“ am 12. und 14. August im Rahmen von 8:tensions