Während der Corona-Lockdowns ist auch Chris Haring mit seiner Kompanie Liquid Loft in die virtuelle, trotzdem nicht virenfreie Parallelwelt ausgewichen. Auszüge aus der im Jänner 2021 als Online-Version uraufgeführten Arbeit „Stranger Than Paradise“ kombiniert Haring hier mit einer vorangestellten Live-Performance („Still“), in der sich die Tänzer*innen des selben Bewegungsmaterials bedienen. Ein äußerst gelungenes Experiment.
Während zwei Männer sich in der Mitte der leeren Bühne halten, merkwürdig verschränkt ineinander, nicht lange danach gehen sie ab, herrscht Durchgangsverkehr. Menschen in wechselnden Kostümen kreuzen die Bühne, unbeteiligt und unbehelligt gehen die Vielen ihrer Wege, die sie aus dem Off an einer Sichtbarkeit vorbei führen. Sie fügen kurze Stopps ein, posen allein oder zu zweit, tanzen ein paar Moves, schreiten. Alles, nur nicht natürlich. Sie lassen für Sekunden Befindlichkeiten nach außen dringen. Leid, Wut, Geringschätzung. Mehr Menschen auf der Bühne, Augenblicke einer Synchronisation. Eine redet stumm.
Andreas Berger schafft mit seinem Sound einen entrückten, beinahe tranceartigen Traum-Raum. Unscharf und verwischt klingen die Songs, Textfetzen durchdringen den akustischen Schleier. Der manchmal auch fällt. Dann sind nur das verstärkte Knarzen der Schuhe und das Rascheln der Kleidung zu hören.
Maschinen gleich wiederholen die Tänzer*innen ihre Bewegungs-Sequenzen, kopieren sie, bis alle sieben Tänzer*innen auf der Bühne sind: Luke Baio, Stephanie Cumming, Dong Uk Kim, Katharina Meves, Dante Murillo, Anna Maria Nowak, Hannah Timbrell. Der Achte dieser herausragenden Truppe, Arttu Palmio, erscheint nur im Video. Als die Musik stoppt, friert die Bewegung ein. Die Gruppe beginnt zu zerfließen, sie wechseln die Kleider, ziehen sie falsch über, Ver-Kleidung wird ent-deckt, kriechen und schieben, das Knarzen wird lauter. Chaos. Die Leinwand senkt sich vorn herab.
Vor einer konvex gebogenen Spiegelplatte kauert Dong Uk Kim, variiert mit minimalen Bewegungen sein Abbild im Spiegel, der ihm nur Zerrbilder zeigen kann. Zwiegesichtig singt er einen Song mit, weint und leidet Qualen. Jeder der acht Unglücklichen hat seinen Spiegel, der irgendwann fällt. Den Tanz, das geschmeidige Pose – Bewegung – Pose in wieder anderem Kostüm, der elegische Sound sind vertraut und doch, weil mit der Kamera näher an dem Menschen, eindringlicher, persönlicher. Wie Schatten ihrer selbst tanzen sie in einer Szene vor hellem Hintergrund auf dunkler Bühne. Der Rundgang durch das Spiegelkabinett beobachtet sie bei der Selbstbeschau, bei Ausprobieren und Untersuchen, beim selbstverliebten Reden mit ihrem Zerrbild. Als die Kamera, mit geübter Hand geführt von Michael Loizenbauer, ganz nah an die Tänzer*innen geht, jeden einzelnen zerlegt in Stücke, wächst noch eine andere Perspektive auf das immer Gleiche. Wie für manch Anderes, was in „Still“ bereits live zu sehen war.
Das Lichtdesign und die Szenografie von Thomas Jelinek kommen im Video besonders wirkungsvoll zur Geltung, sie schaffen in Verbindung mit den speziellen Möglichkeiten der Kamera-Arbeit Momente großer Nähe und Intimität. Am Ende bleiben, nachdem sie posende Kolleg*innen auf Decken über die Bühne zogen und in kaltem Licht noch zwei Gruppen-Stillleben stellten, Decken und Kleidung liegen. Wie ein Stillleben. Lange haben wir Zeit für die Geschichten der leeren Hüllen.
Die Kompanie Liquid Loft hat den postmodernen Menschen als ein hybrides, animalisch-technisiertes Mensch-Maschinen-Wesen seit mehreren Stücken als ein zentrales Thema etabliert. Der Grad der Konzentration und Abstraktion und die Stringenz der Ästhetik in Choreografie, Sound, Licht und Bühne scheinen mit der hier uraufgeführten Performance „Still / Stranger Than Paradise“ allerdings einen, vielleicht auch nur vorläufigen, Höhepunkt erreicht zu haben. Jedoch sollte die Form nicht mit dem Inhalt verwechselt werden.
Die Arbeit zeigt fragmentierte Persönlichkeiten als nicht miteinander kommunizierende Bruchstücke ihrer selbst. Es gibt keinen auch nur leisen Humor mehr, jeder Funken Freude am Leben scheint erloschen. Die Befragung der Zerrbilder im Spiegel mündet in Depression und Hoffnungslosigkeit. Einen Ausweg sehen und suchen diese Opfer ihrer eigenen Un-Fähigkeit und -Willigkeit, sich als Schöpfer ihrer selbst zu begreifen, nicht. Die Wiederholung der Muster, das Gefangensein im Hamsterrad von Konditionierung und diese bestätigender Erfahrung ist das entzerrte Spiegelbild des (post-) modernen Menschen. Die Zwiesprache zwischen Live-Performance und Video-Arbeit verstärkt das „deja vu“ noch, den Kreislauf der immer selben Bilder, des immer selben Erlebens der Welt und unserer selbst. Das Leben scheint sich mit Einwürfen von Tierischem, von vergangenen Kulturen, Jetzigem und vermutet Zukünftigem in kühlender Distanz und objektivierender Abstraktion in diesem Bühnen-Moment zu verdichten.
Chris Haring beschreibt Zustände. Als scharfer, sensibler und äußerst empathischer Beobachter des Menschen richtet er den Blick auf den Einzelnen, den Vereinzelten, Entfremdeten, ohne damit die Gruppe, die Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren. Die Wirkungen auf diese werden als zwingende Assoziationen in die Emotionen der Zuschauenden injiziert. Dieses Stück bindet Heutiges und Gewesenes und weist somit in eine postmoderne Zukunft, die längst begonnen hat.
Die über allem liegende Melancholie und Hilflosigkeit, die scheinbare Unmöglichkeit, Wege zur individuellen Heilung in ein gesamtgesellschaftliches Konzept einpflanzen zu können, der fast apokalyptische Duktus von „Still / Stranger Than Paradise“ machen letztlich tief traurig.
Chris Haring / Liquid Loft: „Still / Stranger Than Paradise“ am 14. August 2021 im Wiener MuTh im Rahmen von ImPulsTanz