Wieder nahm sich ein wichtiger zeitgenössischer Choreograph einer Ikone des klassischen Handlungsballetts an – Angelin Preljocaj kreierte eine neue Version auf Basis der Vorlage von Marius Petipa und Lew Ivanow. Seine Lesart des Märchens „Le Lac des cygnes“ fokussiert einmal mehr auf Kapitalismuskritik und ökologisch fragwürdige Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.
Dennoch bewegt sich Preljocaj dramaturgisch entlang des Originallibrettos, wenn auch nicht immer ganz luzide. Choreographisch ist das Werk vor allem in den Gruppenszenen stark, getragen von einer großartigen Compagnie.
Es ist ein düsterer Schwanense in schwarz und weiß, unterstützt durch eindringliche Videoprojektionen von verfremdeten Hochhäusern und Industrieanlagen. Auch die bunten Kostüme der Tänzerinnen in manchen Szenen ändern da nicht viel. Odette wird gleich zu Beginn nicht durch Magie des Zauberers Rothbart in einen Schwan verwandelt, sondern durch einen Akt der Vergewaltigung seiner Schergen. Siegfried ist kein junger und naiver Prinz, der zwangsverheiratet werden soll, sondern Sohn eines bösen Immobilienspekulanten. Dieser möchte ihn in seine dubiosen, zerstörerischen Geschäfte mit Rothbart involvieren. Siegfried verweigert das. Der Sohn mit intensivem Verhältnis zur Mutter träumt lieber von der romantischen Liebe. Preljocaj etabliert spannende Traumlandschaften und wechselt gekonnt die Ebenen zwischen Realität und Fiktion, wenn etwa die projizierten Hochhäuser an der Bühnenrückwand gerinnen wie in einem surrealen Bild.
Die eindringliche Komposition Tschaikowskis unterbricht Preljocaj durch zeitgemäße Soundtracks wie Elektropop und Technobeats, und dann ändert sich auch das tänzerische Geschehen. Die klassische Linie weicht heutiger Ästhetik, da wird schon einmal partymäßig geshaked. Doch hier kommt wieder Preljocajs Können ins Spiel, wenn er die fließenden Übergänge so gut gestaltet, dass sich die neue Szene organisch aus der vorigen ergibt. Überhaupt liegt seine Stärke in der Gruppenchoreographie. Es gelingt ihm, interessante Formationen zu schaffen, in der jeder Körper seine tänzerische Aufgabe hat und zum Gesamteindruck eines dynamischen Geschehens beiträgt.
Bezaubernd gerät demgemäß das neoklassische Ballet blanc der Schwäne, dem der Choreograph großen Raum gibt. Ein „Schwanensee“ ohne Ballett der Schwäne ist auch für ihn nicht denkbar. Großartig ist auch eine „Sesselchoreographie“, in der alle auf Klappstühlen sitzend, dennoch tanzen. Weniger famos wirken die Pas de deuxes, die deutlich schlichter in ihrem Vokabular ausfallen. Der Abend funktioniert in erster Linie durch die hervorragende Compagnie des Ballet Preljocaj, in der jede und jeder höchstes tänzerisches Vermögen innehat. Diese erstaunliche Präzision und Synchronizität in den Gruppenchoreographien ermöglicht absoluten synästhetischen Genuss.
Ein „Schwanensee“, der sich in die besten der vielen Neuschöpfungen einreiht.
Ballet Preljocaj: „Schwanensee“ am 25. September 2021 im Festspielhaus St. Pölten.