In seiner Performance-Lecture „Borderlines“ spielt der rumänische Künstler Manuel Pelmuş mit den Imaginationen seines Publikums. In totaler Finsternis. Und die in Wien lebende Französin Alix Eynaudi feiert mit ihrem jüngsten Stück „Bruno“ ihren Kollegen und Freund, den Lichtdesigner Bruno Pocheron, mit dem sie eine 16-jährige Zusammenarbeit verbindet, mit einer Choreografie für Körper, Licht und Klang.
Manuel Pelmuş: „Borderlines“
Der mehrfach ausgezeichnete und weltweit aktive, in Oslo und Bukarest lebende Rumäne Manuel Pelmuş brachte seine Lecture-Performance „Borderlines“ zu Gehör. Denn zu sehen gab es nichts. In völliger Finsternis, außer einem Schimmer der spärlichen Beleuchtung seines Stehpultes sah man im TQW-Studio wirklich nichts, verlas und performte er, zeitlich und inhaltlich eingebettet in seine künstlerische Karriere, vielerlei Erlebnisse, Beobachtungen, Reflexionen und Gedankenspiele. Und er tanzte. Wahrscheinlich.
Durch die Zeiten springt er von Ort zu Ort, erzählt mit ruhiger, warmer Stimme von seinem ersten Grenzübertritt gen Westen nach dem Fall der Mauer. Als nun freier Ostblock-Bürger. Eine erste von vielen folgenden Grenzüberschreitungen, physischen, emotionalen, gedanklichen, künstlerischen. Er berichtet von der Inspiration für Performances in totaler Dunkelheit, als ein kongolesischer Choreograf den zweiten Teil seiner Tanz-Vorstellung als angekündigte Wiederholung des ersten, nun aber in völliger Dunkelheit performt, aufführte und damit die Imaginationsfähigkeit und -Kraft des Publikums ansprach. Und weil er das Primat der Bilder und unserer visuellen Wahrnehmung in Frage stellte, was sich als prägend für Pelmuş erweisen sollte. Bereit 2007 zeigte er sein ebenfalls im Dunkeln aufgeführtes Solo „Preview“ im TQW, mit dem er hernach weltweit unterwegs sein sollte.
Er beschreibt seine Kleidung und was er tut, als er tanzt. Später wiederholt er eine Tanzsequenz „ohne Tonspur“. Nur Schritte, Rascheln, Fallen. Lange fühlte er die innere Notwendigkeit, sich als ein im Ostblock geborener Künstler zu präsentieren, was sich im Laufe seiner Entwicklung für ihn als absurd herausstellte. Diesbezüglich glitt er von der Sicht- in die Unsichtbarkeit. Und er erwähnt eine Gruppe unter uns, die sichtbar ist, es aber nicht sein will: die Immigranten. Damit spricht er politische und gesellschaftliche Implikationen des Themas an. Wer ist in der Geschichtsschreibung, in der Gesellschaft, in der Politik sichtbar? Und wer nicht? Und warum? Sein iranischer Professor in Stockholm, der, weil er offensichtlich ein Anderer, ein Ausländer war, im Gesicht angeschossen wurde und überlebte, induzierte Gedanken zur Privilegiertheit Weißer, zur Sicht- und Unsichtbarkeit von Andersartigkeit, zu Aspekten der Repräsentation und von Zuschreibungen.
Die Enzyklopaedia Britannica, ein zweites Mal erwähnt, ließ ihn irgendwann einmal denken: „I'm not here.“ Er tritt zurück und steht still. An- und abwesend in einem. Sehr lange. Ein wirklich starker Moment. Denn (s)eine Energie ist zu spüren. Am Ende geht er ab in der und in die Finsternis, bleibt unsichtbar, anonym und abwesend für das applaudierende Publikum. „Borderline“ ist eine stille, unaufgeregte, vielschichtige und poetische Arbeit, die nicht nur wegen ihrer außergewöhnlichen Präsentationsform Spuren hinterlässt.
Alix Eynaudi: „Bruno“
Die in enger Kooperation von Hugo Le Brigand, Mark Lorimer, Alix Eynaudi, Cécile Tonizzo, An Breugelmans, Bruno Pocheron und Paul Kotal erarbeitete Performance „Bruno“ erlebte in der Halle G des Tanzquartier Wien ihre Uraufführung. Die Choreografie setzt virtuos Folgen von kurzen, fast skulpturalen Sequenzen mit sehr eigenem Bewegungsmaterial und artistischen Beilagen in ständig neue Kontexte. Die drei Tänzer*innen Alix Eynaudi, Mark Lorimer und Hugo Le Brigand begegnen sich in einem Fluss ohne Anfang und Ende. Wie Atome, die für kurze Zeit ein Molekül bilden, das bald darauf wieder zerfällt. Oder wie Liebschaften. Oder Gedanken. Oder ein Innehalten. Auffangen, Stützen und Halten, Momente zärtlicher Fürsorge, Ebenbürtigkeit allenthalben, kein Richtig oder Falsch, keine Wertungen. Das Woher und das Wohin haben keine Bedeutung. Es ist wie ein Spiel.
Es ist ein Werden und Vergehen, ein Kommen und Gehen. Flüchtige Begegnungen, die kurze, immer wieder andere Bindungen immer wieder neuer Qualitäten entstehen und zerfallen lassen. Etwas zu finden und es gleich wieder zu verlieren. Kein Versuch, es fest- oder aufzuhalten. Das Grund- und Ziellose, in ständiger Variation ewig Gleiche. Die dem Entstehen innewohnende Vergänglichkeit. Wie Gedanken, die aus dem Nichts aufsteigen und Gefühle, die scheinbar unvermittelt über uns hereinbrechen und im nächsten Augenblick verfliegen, wie der Zauber der unendlich vielen, unwiederbringlichen Momente, deren Summe unser Leben ist. Und sie halten die Spannung. Vom Anfang bis zum Ende.
Das Licht, designet von Bruno Pocheron, begleitet hier nicht nur die Performance der Menschen, sondern wird selbst zum Darsteller. Der das Bühnenbild prägende Turm aus unzähligen Lampen und Leuchten, mit wie die Eingeweide eines geöffneten Bauches bloßgelegten, sichtbaren Kabeln und Steckern im Innern, entwickelt während eines langen Intermezzos ohne Tänzer*innen auf der Bühne ein performatives Eigenleben. Pocheron lässt das Licht tanzen. Der Sound dazu, synchronisierte Schaltgeräusche, Netzbrummen, Pfeifen, Knistern und Knacken, stellt die Beleuchtung mit allem, was sie braucht, um sie entstehen zu lassen, ins Zentrum. Diese Wertschätzung der in der Regel nur zuarbeitenden Illumination ist einzigartig. Die Musik respektive der Sound von Paul Kotal spielen auf ihrer Ebene mit eben den Mechanismen von Zusammen- und Auseinandergehen. Auch sie stellen Möglichkeiten in den Raum und lassen sie bald wieder verklingen. Ein außerordentlicher Respekt und so viel Zärtlichkeit prägen das Zusammenspiel der verschiedenen Disziplinen. Jedes bekommt seinen Raum, keines wird über ein Anderes gestellt.
Das gleichberechtigte Agieren aller Komponenten und das Adressieren vieler unserer Sinne mit Tanz, Licht und Sound geben dem Entstehen und Vergehen eine noch größere Dimension und weisen damit in die Unendlichkeit der Komplexität von materiellen und immateriellen, von physischen und psychischen Beziehungen und von räumlichen und zeitlichen Dimensionen. Von subatomar bis galaktisch, von Nanosekunden bis Milliarden von Jahren. Und von der Feder, die im Flusse treibt.
Die Poesie dieser Arbeit liegt im Flüchtigen, Dazwischen, Ungesagten, in ihrer komplexen Metaphorik, in den vielen Bildern, die aus den Tiefen unseres Emotio, lange noch danach, mannigfaltige Imaginationen hervorzaubern. Ihre Schönheit wohnt in der Vollkommenheit des Unvollendeten. Ihre Kraft bezieht sie aus der Wertschätzung des Momentes und jedes Teiles ihres Ganzen. Wie unten so oben. Im Kleinen wie im Großen. „Bruno“ wie das Leben. Wie die Welt.
Manuel Pelmuş: „Borderlines“, Alix Eynaudi: „Bruno“ am 8. Oktober 2021 im Tanzquartier Wien.